Dreikönigsgemeinde

Angebote und Themen

Herzlich Willkommen! Entdecken Sie, welche Angebote der Dreikönigsgemeinde zu Ihnen passen. Über das Kontaktformular sind wir offen für Ihre Anregungen.

Was mache ich, wenn...
Menümobile menu

Sommerpredigt 2023: Nicht richten

Gottesdienst am 27.08.2023 am 12. Sonntag nach Trinitatis in der Bergkirche

Liturgie und Predigt: Pfarrerin Silke Alves Christe

Predigttext, Matthäus 7, 1-5

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.
Denn wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden;
und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.
Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge
und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?
Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder:
Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen!
- und siehe, ein Balken ist in deinem Auge?
Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge;
danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

Predigt

Liebe Gemeinde!

Vor wenigen Jahren an einem Heiligen Abend nach der Christvesper in der Dreikönigskirche habe ich etwas erlebt, was mir in meinen schon recht zahlreichen Berufsjahren noch nie passiert war. Von den vielen Besuchern, denen ich an der Kirchentür ein gesegnetes Weihnachtsfest wünschte, gingen etliche an mir vorbei, indem sie mir einen so erhobenen Daumen entgegenstreckten.

Ich war so verblüfft. Diese Art, ein Urteil abzugeben, war ich überhaupt nicht gewohnt. Statt mich über diese wohlmeinende Geste zu freuen, und auch darüber zu freuen, dass niemand mir einen Daumen nach unten entgegengestreckt hatte, war ich eher ein bisschen erschrocken. Zeigte mir diese für mich ganz neue Art der Kommunikation doch nicht zuletzt, dass ich spürbar älter geworden war und mit manchem erst vertraut werden muss, was sich in den letzten Jahren verändert oder sich neu eingebürgert hat. Inzwischen, vor allem nach den vielen Zoom-Sitzungen der Pandemiezeit, bin ich mit der Geste „Daumen hoch“ oder „Daumen runter“ schon viel vertrauter, zwar nicht mit meiner eigenen Hand, sondern mit der kleinen Hand, die mir als Symbol, als Icon, auf dem Bildschirm angeboten wird, um sie anzuklicken.

Nun frage ich mich, wie viele Klicks „Daumen hoch“ und wie viele Klicks „Daumen runter“ Menschen, die viel in sozialen Netzwerken aktiv sind, so Tag für Tag tätigen.

Und ich frage mich, was das für uns bedeutet, wenn wir zum Abgeben eines positiven oder negativen Urteils nur noch diesen Bruchteil einer Sekunde benötigen, den ein Klick für ein like oder ein unlike eben braucht.

Und ich wüsste gern, was das mit Menschen macht, wenn sie, nachdem sie etwas im Netz veröffentlicht bzw. gepostet haben, sehnsüchtig auf likes warten und diese beglückt zählen oder aber unlikes ertragen müssen, die an ihrem Selbstbewusstsein kratzen. Spätestens wenn sich die Zahl der unlikes, der „Daumen runter“ zu einem Shitstorm entwickelt, wird wohl die Verbindung deutlich, die ich zu unserem heutigen Predigtext sehe:

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.
Denn wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt,
wird euch zugemessen werden.

Als Berufsverbot für Richter ist das Wort Jesu wahrscheinlich nicht zu verstehen und auch nicht für Lehrer, die hoffentlich diese letzte Ferienwoche noch genießen können, bevor sie wieder Noten geben und Beurteilungen schreiben müssen. Das griechische Verb für richten ist im Grunde das Wort, von dem unser „kritisieren“ abgeleitet wird. Andere Übersetzungen geben es wieder mit „Urteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet!“ Und schon sind wir von den genannten Berufsgruppen wieder bei uns selbst angekommen. Mit meinem Ausflug in die sozialen Medien mit ihren likes und unlikes wollte ich auch eher die Besonderheiten der schnellen Klicks dabei herausstellen, aber ganz und gar nicht behaupten, dass Jesu Mahnung nicht zu richten, nicht über andere Menschen zu urteilen, speziell ein modernes Phänomen trifft. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass Menschen schon immer schnell und wohl auch gern bei der Hand waren, wenn es darum ging, andere Menschen zu be- oder verurteilen. Und dass es dann meist nicht dabei blieb, sich so seinen Teil zu denken über einen anderen Menschen. Auch wenn sich heute hier in der Sachsenhäuser Bergkirche hauptsächlich Großstadtbewohner – liberal und weltoffen – versammelt haben, so weiß doch jede und jeder von uns, was an sozialer Kontrolle nicht nur in Dörfern stattfand und stattfindet und wie in vielen Arbeitsstellen hinter dem Rücken über Kolleginnen und Kollegen getuschelt wird bis hin zum mobbing.

Wenn Jesus uns auffordert: Richtet nicht!, lohnt sich vielleicht ein Blick darauf, wie Jesus uns vorgelebt hat, wozu er uns hier auffordert: Ja, Jesus hat sich besonders verständnisvoll und liebevoll denen zugewandt, die von ihren Mitmenschen gerichtet/verurteilt worden sind bis hin zu dem starken Satz aus dem Johannesevangelium:

„Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“

Aber Jesus selbst hat zugleich ausgesprochen kritisch über Menschen geurteilt/gerichtet, vor allem über die, die sich selbst für fromm oder für besser hielten und auf andere herabschauten. Gerade das Matthäusevangelium zitiert nicht wenige sehr krititsche Worte Jesu über seine Mitmenschen. Sogar hier in unserem kurzen Textabschnitt aus der Bergpredigt betitelt er:

„Du Heuchler!“

Phlegmatisch und teilnahmslos alles hinzunehmen, auch Unrecht, auch unfaires Verhalten Mitmenschen gegenüber, das kann nun wirklich nicht gemeint sein mit der Aufforderung: Richtet nicht!

Aber der Hinweis, vor dem Äußern unserer Kritik, unseres Urteils über andere, auf uns selbst zu schauen, auf eigene kritikwürdige, zu verurteilende Verhaltensweisen, ist der eigentliche Sinn unseres Predigttextes, der durch das drastische Bildwort von Splitter und Balken sehr einprägsam hervorgehoben wird.

Die Metapher von dem Splitter in des Bruders Auge und dem Balken im eigenen Auge ist ja geradezu sprichwörtlich geworden – und war es offenbar schon zur Zeit Jesu.

Indem Jesus dieses damals schon bekannte Bildwort zitiert, legt er den ersten Teil unseres Predigttextes aus:

Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?
Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen! - und siehe, ein Balken ist in deinem Auge?
Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

Ja, erstaunlich gut ausgeprägt ist unser Sehvermögen, wenn es um die Fehler unserer Mitmenschen geht. Wenn wir auf andere schauen, dann sehen wir unvergleichlich scharf. Jeden noch so kleinen Splitter erkennen wir ohne Lupe. Schnell werden wir fündig, wenn wir Gründe suchen, warum wir es mit anderen Leuten so schwer haben.

Mit einem vorschnellen Urteil, mit dem ach so verbreiteten Schubladen-Denken, das uns das Einordnen und die Übersichtlichkeit so sehr erleichtert, tun wir aber unseren Mitmenschen Unrecht und vergiften schnell die Atmosphäre: am Arbeitsplatz, in der Familie, in der Kirchengemeinde.

Viele Menschen haben schon die Erfahrung gemacht, festgelegt zu werden auf eine bestimmte Rolle. Ein kleiner, dummer Fehler, ein Gerücht, ein Vorurteil haftet ihnen an, und alle blicken nur auf diesen schlechten Schnappschuss statt wirklich in ihr Gesicht.

Jesus lenkt unseren Blick von unseren Mitmenschen zurück auf uns selbst. Jesus stellt die Arbeit an den eigenen Schwächen vor die Kritik am Nächsten. Wir sollen wissen, dass wir selbst uns ändern müssen, bevor wir andere ändern können. Diese Reihenfolge ist unumkehrbar.

Die enge Verbindung von meinem Richten oder Verurteilen anderer zu mir selbst, zu dem, was mir widerfahren wird, stand ja gleich im ersten Satz:

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.
Denn wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden.

Jesus macht deutlich: es gibt kein Urteil/kein Richten über andere, ohne, dass ich selbst in den Blick komme.

Das Schwierige oder Unfaire an Likes oder Unlikes im Internet ist vor allem der Trugschluss, wir könnten im Richten anonym bleiben, ganz von uns absehen und nur auf die anderen schauen: Jesus macht deutlich, dass der Blick auf andere mit dem Blick auf mich selbst zusammengehört, und dass es kein Urteilen über andere gibt, bei dem ich selbst draußen vor bleibe, bei dem ich selbst keine Rolle spiele.

Auch wenn das anonyme Klicken vor dem Bildschirm uns das suggerieren mag, es gibt kein aktives Richten ohne ein passives Gerichtetwerden.

Nur mit diesem kurzen Hinweis im Passiv:

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.
Denn wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden.“

macht unser Abschnitt aus der Bergpredigt deutlich, dass all unser menschliches Richten nicht das Entscheidende ist.

Nicht irgendwelche menschlichen Urteile oder irgendwelche weltlichen Instanzen sprechen das letztlich Entscheidende, sondern Gott selbst ist Richter.

Dass wir einmal gerichtet werden, das ist nun kein Grund zusammenzuzucken und zu erschrecken. Viel erschreckender wäre, wenn wir uns selbst oder wir uns gegenseitig zu richten hätten oder wenn dieses menschliche Richten das letzte Wort hätte.

Dass Gott unser Richter ist, das ist nicht Schreckensbotschaft, sondern das ist letztlich die Botschaft der Liebe.

Sie verheißt die Befreiung von Menschen, die sich zu unseren Richtern erheben, sie verheißt die Befreiung für alle, die sich unter den Urteilen und Richtsprüchen ihrer Mitmenschen erdrückt fühlen.

Ja, dies ist die befreiende Botschaft vom Gericht Gottes: Menschen haben kein Recht und auch keine Pflicht, sich als Richter über ihre Mitmenschen zu erheben, und es ist nichts als Anmaßung, Gottes letztes Urteil vorwegnehmen zu wollen.

Für all unser menschliches Richten, für all unsere Urteile übereinander und auch über uns selbst gilt, was der israelische, deutschschreibende Dichter Elazar Benyoetz in einem knappen, treffenden, doppelt treffenden Satz formuliert hat:

"Auf Erden wird nur das Vorurteil gesprochen."

Das heißt: Was wir für Urteile halten, sind in Wahrheit nur Vor-urteile.

Und das gilt gleichermaßen für die vorschnellen, unüberlegten, geklickten wie für die ausgereiften, wohlüberlegten Urteile:

"Auf Erden wird nur das Vorurteil gesprochen."

Das heißt auch: Was auf Erden gesprochen wird, ist immer nur ein vorläufiges Urteil, liegt alles vor dem eigentlichen Urteil und reicht alles nicht an dieses heran.

Hier auf Erden wird überhaupt nichts letztlich Entscheidendes über einen Menschen ausgesagt.

"Auf Erden wird nur das Vorurteil gesprochen."

Aber wir dürfen darauf vertrauen und darin Trost finden, dass das letzte Wort unserem Gott vorbehalten bleibt, der ein Gott der Liebe und der Barmherzigkeit ist. Amen.

Diese Seite:Download PDFDrucken

to top