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Herdenimmunität

Erstaunlicherweise führt uns gerade die Erfahrung der Pandemie zu einer Wiederentdeckung der „Herde“ und der Sicherheit und des Schutzes, die in ihr entstehen können.

Vor kurzem hörte ich im Radio einen Bericht darüber, dass im Laufe der nun schon eineinhalb Jahre währenden Pandemie erstaunlich viele neue Wörter gebildet wurden, die wir zuvor nie gehört und nie benutzt haben, wie z.B. Impfneid oder Klopapierhysterie.

Neben den zahlreichen neuen Sprachschöpfungen möchte ich ein ständig zu hörendes Wort hervorheben und bedenken, das in der Fachsprache der Epidemiologie schon lange existiert, aber den meisten Nichtmedizinern bisher wohl kaum geläufig war: den Begriff „Herdenimmunität“.

Wir sind also – so stelle ich verwundert fest – in der Kirche gar nicht die einzigen, die das Bild einer Herde von Tieren auf Menschen übertragen, wenn wir von der Gemeinde als Herde und von Christus als Hirten sprechen.

In unserer heutigen Gesellschaft, in der der Einzelne und seine individuelle Lebensgestaltung oft an erster Stelle stehen, war das Bild von einer Herde allerdings ein wenig aus der Mode gekommen. Erstaunlicherweise führt uns gerade die Erfahrung der Pandemie zu einer Wiederentdeckung der „Herde“ und der Sicherheit und des Schutzes, die in ihr entstehen können. Ja das weltweit grassierende Virus erinnert uns daran, wie wir in unserer globalisierten Welt miteinander vernetzt sind, und dass unser Tun und Lassen immer auch Folgen hat für unsere Mitmenschen, negative wie positive.

Der medizinische oder epidemiologische Begriff der Herdenimmunität lässt mich so wieder neu entdecken, dass das alte biblische Bild von der Herde nicht überholt ist.

Offenbar kann eine „Herde“, in der schon viele Menschen durch Impfung oder Erkrankung immun sind, eine Minderheit von nicht immunisierten Menschen schützen.

Diese virologische Bedeutung kann und will ich nicht vertiefen, aber dass ich alle paar Tage in Radio oder Fernsehen diesem Begriff der Herdenimmunität begegne, lässt in mir immer wieder Assoziationen aufleben zu dem, was „Herde“ für uns als Christen bedeutet: Im biblischen Bild vom Hirten und seiner Herde finden Christen einen Ausdruck des Vertrauens und der Geborgenheit. Von seinem Ursprung her will das Bild von der Herde nicht sagen, dass die Herde aus „dummen“ Schafen bestünde. Die Herde ist kein Bild für Unmündigkeit und infantile Abhängigkeit, sondern ein Bild für eine schützende, bergende Gemeinschaft, in der Menschen, die füreinander Verantwortung tragen, sich sicher fühlen können und angstfrei miteinander leben können.

Anders als in der Epidemiologie ist in der Bibel mit dem Bild der Herde das Bild vom Hirten verbunden. In der Verunsicherung, die die Pandemie über uns gebracht hat, fehlt uns vermutlich gerade dies: ein Hirte, der uns „auf rechter Straße“ führt, wie es in Psalm 23 heißt, der uns durch das „finstere Tal“ all dieser schmerzhaften Einschränkungen begleitet.

„Hirten, die sich selbst weiden“, wie der biblische Prophet Hesekiel (Hes. 34,2) scharf kritisiert, mussten wir erleben in Mandatsträgern, die ihren eigenen Profit aus der Misere der „Herde“ gezogen haben. Aber auch die politisch Verantwortlichen, die sich redlich bemühen, wirken oft so überfordert, dass ich geneigt bin, in die Klage des Hesekiel einzustimmen:

„Meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben.“ (Hes. 34,5)

Ich bin dankbar, diese anstrengende, unkalkulierbare Pandemiezeit in der „Herde“ einer verlässlichen christlichen Gemeinde durchleben zu können, in einer Gemeinde, die sich nicht zurückzieht in die völlige Vereinzelung, sondern in großer Vorsicht zusammenkommt zu Gottesdienst und Gebet, und die sich bemüht, mit denen, die daran nicht teilnehmen können, telefonisch oder auf anderen Wegen in Kontakt zu bleiben.

Ich bin froh, in unserer Kirchengemeinde eine „Herdenimmunität“ auch insofern zu erleben, dass sie immun ist gegen mancherlei verquere Gedanken und Verschwörungstheorien, immun auch gegen Rücksichtslosigkeit und ungeduldigen Egoismus, immun auch gegen den neu auflebenden, erschreckenden Antisemitismus und Rassismus.

Aber das Tröstlichste beim Bild von der Herde ist für mich nicht ihre Immunität, sondern dass die Bibel uns als Herde auf den verweist, der von sich sagt:

„Ich bin der gute Hirte.“

Ich wünsche Ihnen, dass Sie in allem, was uns diese Pandemie – vielleicht noch jahrelang – abverlangen wird, Vertrauen und Geborgenheit finden im Glauben an unseren guten Hirten Jesus Christus, der uns so durch diese Zeit führt, wie Hesekiel es in seiner Predigt über Herde und Hirte verheißen hat:

„Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken.“ (Hes. 34,16)

Pfarrerin Silke Alves-Christe

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