Die Jahreslosung ist eine Reaktion auf eine persönlich erfahrene Zuwendung Gottes. Sie ist Bekenntnis und Gotteslob in einem. Und sie gehört in eine Geschichte, die im 1. Buch Mose erzählt wird.
Hagar, eine schwangere Sklavin, flieht in die Wüste – einen Ort, der keine Versorgung und keinen Schutz bietet. Sie hat entschieden: So wie jetzt will sie nicht weiterleben. Sie wurde benutzt, um der Familie von Abraham und Sara ein Kind zu gebären; gefragt hatte man sie nicht. Sie ist weggelaufen von Abraham und seiner Frau Sara, ihrer Herrin. Sie ist weggelaufen aus einem komplizierten Beziehungsgeflecht von Rivalität, Provokation und Geringschätzung, in dem Menschen sich gegenseitig verletzen und demütigen. Doch wo soll sie als entflohene Sklavin hin? Das weiß sie selbst nicht.
Sie gelangt an einen Brunnen. Ein Hoffnungsort, der Wasser in der Wüste spendet. An diesem Ort erfährt sie die Zuwendung Gottes. Ein Engel spricht sie an. Mit ihrem Namen: Hagar. Für sie als Sklavin ist das eine neue Erfahrung. Da ist jemand, der sich interessiert für das, was sie erlebt und erleidet.
Der Engel des Herrn verheißt ihr eine große Nachkommenschaft und einen Sohn, der im Leben seine eigenen Wege gehen wird: frei und unabhängig, ein Mann wie ein Wildesel heißt es (1. Mos 16,12), unbändig und unaufhaltbar. Ismael soll sie ihn nennen: Gott hört. Mit diesem Kind scheint die Hoffnung auf eine andere Zukunft auf.
Doch der Engel schickt sie auch zurück zu ihrer Herrin Sara. Zurück in die schwierigen Verhältnisse, denen sie gerade erst entflohen ist. Manchmal muss man im Leben zurückgehen und bestimmte Situationen durchstehen, um voranzukommen.
Hagar beklagt sich darüber nicht. Die Tatsache, dass Gott ihr Leiden erkennt und ihr Hoffnung für die Zukunft zuspricht, scheint für sie alles zu verändern. Anders als Sara und Abraham nimmt Gott sie als Person wahr. Hagar fühlt sich angenommen und geliebt. Und diese Erfahrung führt dazu, dass sie Gott einen Namen gibt:
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Das ist nicht nur eine Bezeichnung, sondern auch eine Anrede, genauer: eine Gebetsanrede des Gotteslobes. In diesem Lob Gottes artikuliert sich ihre persönliche Erfahrung. Für mich, bekennt Hagar, ist er der Gott, der mich sieht. Wie immer er auch sonst genannt wird – für mich ist er der Gott, der sich mir in meiner Not zugewandt hat.
Gott nimmt Hagar als Person wahr – sie erfährt sich als freies Geschöpf
An Hagars Situation ändert sich durch diese Erfahrung äußerlich nichts. Sie ist immer noch eine schwangere Sklavin und Sara ist ihre Herrin. Doch weil sie sich der Zuwendung Gottes bewusst wird, ändert sich ihr Verhältnis zu den Menschen, mit denen sie zu tun hat. Sie erfährt sich selbst als freies und geliebtes Geschöpf Gottes und erfährt darin ihre Würde. Das gibt ihr Kraft.
Es tut uns gut, wahrgenommen und beachtet zu werden. Da merken wir: Die anderen interessieren sich für mich. Ich bin ihnen wichtig. Das gibt Selbstvertrauen.
Freilich: nicht alles, was es bei uns zu sehen gibt, soll auch gesehen werden. Unsere Verfehlungen und Unzulänglichkeiten versuchen wir zu kaschieren. Wir versuchen, uns in ein vorteilhaftes Licht zu stellen und einen guten Eindruck zu machen.
Doch bei Gott ist das weder möglich noch nötig. Gott sieht uns wie wir sind. Ihm ist auch unser Innerstes offenbar. Doch das ist kein Grund zur Furcht – auch wenn bedauerlicherweise lange Zeit mit einem allwissenden und strafenden Gott gedroht wurde. Gott hält in seiner Liebe aus und erträgt, was er da bei uns sieht. Auch das Unansehnliche, das wir am liebsten verbergen wollen. Und Gottes liebender und schöpferischer Blick verwandelt, was er sieht. Sein Ansehen macht uns zu neuen Menschen. Er eröffnet auch uns Zukunft, wie einst Hagar und jedem Menschen, der ihm vertraut.
Gottes Ansehen macht uns zu neuen Menschen
Dieses Ansehen Gottes spricht uns auch der Segen am Ende des Gottesdienstes zu:
„Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig“.
Mit leuchtenden Augen und einem strahlenden Gesicht blicke Gott dich freundlich an.
„Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“
Gott achte auf dich und bewahre dich in seinem Frieden. Mit diesem Segen gehen wir in das neue Jahr und vertrauen darauf, dass auch wir Grund haben werden zu sagen:
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Pfarrer Jürgen Seidl