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Anton Urspruch – Vom Modepfarrer zum Verfemten

Gottesdienst zum Holocaust-Gedenktag

Foto: privat

Predigt am 29.01.2023 aus der Dreikönigskirche
Liturgie und Predigt: Pfarrerin Silke Alves-Christe

Liebe Gemeinde,

als uns in der Gedenkgruppe klar wurde, dass wir das Schicksal von Pfarrer Anton Urspruch und seiner Frau Bertha, geb. Grünebaum, in diesem Gottesdienst in Erinnerung rufen wollten, da hofften wir, noch so manches über ihre gemeinsamen Jahre hier in der Dreikönigs-gemeinde herauszufinden. Natürlich interessierten uns vor allem die genauen Hintergründe, warum Pfarrer Urspruch Ende April 1933 mit 63 ½ Jahren, also 6 ½ Jahre vor der Zeit, seinen Ruhestand einreichte – „aus gesundheitlichen und persönlichen Gründen“, wie er selbst schreibt.

Aber so intensiv Carsten Schwöbel aus der Gedenkgruppe auch forschte, so viel Interessantes er uns am Dienstag in einem spannenden Vortrag präsentieren konnte, was genau dem Pfarrerehepaar in der Dreikönigsgemeinde oder in der Frankfurter Kirche angetan wurde, darüber lässt sich weiterhin nur mutmaßen.

Nachdem mir bewusst wurde, dass diese Predigt nicht aus Antworten, sondern vor allem aus Fragen bestehen würde, habe ich entschieden, nicht einen Fragenkatalog aufzulisten, sondern meine Fragen in einen fiktiven Brief an Bertha Urspruch, die Ehefrau eines meiner Vor-vor-vor-gänger, zu fassen:

Liebe Bertha!

Wir möchten in der Dreikönigsgemeinde, in der Dein Mann von 1925-1933 sehr segensreich wirkte, nicht vergessen, in was für schwierigen Zeiten Ihr als Pfarrerehepaar gelebt habt. Um für unsere Gegenwart und Zukunft zu lernen, möchten wir uns hineindenken in das, was Ihr erleben und erleiden musstet, bevor Ihr vor nach knapp 8 Jahren die Dreikönigsgemeinde verlassen habt.

Als Ihr – lange vor Eurer Sachsenhäuser Zeit – am 3. November 1908 geheiratet habt, war Dein Mann schon 9 Jahre lang Pfarrer in der St. Paulsgemeinde im Herzen Frankfurts, ein ausgesprochen beliebter Prediger. Er wird Dir, so hoffe ich, nicht verschwiegen haben, dass ihm, seit er 1899 diese herausgehobene Stelle antrat, die Herzen nicht weniger junger Frauen zugeflogen waren, bevor der attraktive Junggeselle sich für Dich entschied.

So, wie ich die damalige Zeit einschätze, könnte ich mir vorstellen, dass einige, die sich damals vielleicht Hoffnungen gemacht hatten, und sicher auch manche anderen Leute, gedacht oder hinter vorgehaltener Hand getuschelt oder auch laut ausgesprochen haben: ‚Warum musste er sich nun ausgerechnet für eine Jüdin entscheiden?‘ Musstest Du selbst solche verletzenden Fragen hören?

Eine Besonderheit war das ja in der Tat: Dass ein evangelischer Pfarrer eine getaufte Jüdin heiratete. Wir nehmen an, dass Deine Taufe in der Vorbereitung auf Eure Eheschließung geschah. Aber das konnten wir nicht sicher herausfinden. Zu gern wüsste ich auch, ob Dein zukünftiger Mann selbst Dich getauft hat. Er hatte ja engen Kontakt zu jüdisch-christlichen Familien, und war der Frankfurter Pfarrer, der die meisten Taufen in diesen Familien vornahm. Auch die drei Kinder der jüdischen Familie Katzenellenbogen z.B., hat Dein Mann getauft und auch deren Mutter. Unsere Konfirmandinnen lasen ihre Namen eben beim Gedenken.

Aber aus Deiner Familie warst Du offenbar die Einzige, die sich taufen ließ. Zu gern wüsste ich, wie Deine Familie zu Deiner Entscheidung stand. Hatte die jüdische Religion in Deiner liberalen Familie keine Rolle mehr gespielt?

War es für Deine Eltern und Deine Geschwister schwer, dass Du das Judentum verlassen hast oder hatten sie selbst sich schon mehr oder weniger vom jüdischen Glauben entfernt? Haben Sie Deine Taufe und dann Deine Hochzeit mitgefeiert? Oder geschah beides eher im kleinen Rahmen? Ohne viel Aufhebens?

O, entschuldige, liebe Bertha, wenn ich Dir mit so vielen Fragen auf die Nerven gehe! Das bist Du sicher gar nicht gewohnt, und vielleicht ist es Dir auch richtig unangenehm. Denn ich stelle mir vor, dass in den Zeiten, in denen Du Pfarrfrau wurdest, über das, was ein solcher Wechsel der Religion bedeutet, theologisch und für Dich persönlich, eher geschwiegen wurde.

Dass ich Dich so mit Fragen löchere, ist wohl auch nur mit dem Abstand von über 100 Jahren zu Deiner Taufe und Deiner Hochzeit vorstellbar. Denn inzwischen steht die Kirche in einem recht intensiven, offenen Dialog mit dem Judentum. Die Kirche hat nach all den furchtbaren Verfehlungen erkannt, dass das Judentum die Wurzel des Christentums ist und dass der jüdisch-christliche Dialog uns Christen für das Verständnis der Bibel (den größten Teil davon haben ja Juden und Christen als gemeinsame Heilige Schrift) unverzichtbar ist, und auch für das Verständnis Jesu, der von seiner Geburt bis zu seiner Kreuzigung vor den Toren Jerusalems als frommer Jude gelebt hat. Waren solche Fragen jemals Thema zwischen Dir und Deinem Mann?

Um Dir noch eine kleine Pause von meinen Fragen zu gönnen, will ich Dir von einem Studienkollegen erzählen, der in den 80ger Jahren mit mir zu einem Studienjahr in Jerusalem war und dort eine israelische, also jüdische Frau kennen und lieben lernte.

Zu Deiner Zeit, liebe Bertha, war für Dich als Frau aus einer jüdischen Familie die Taufe ja sozusagen das ‚Entréebillett‘, um überhaupt Pfarrfrau werden zu können.

Ich nehme an, dass Du dieses Zitat Heinrich Heines kanntest: “Der Taufzettel ist das Entréebillett zur europäischen Kultur.“ Vielleicht mochtest Du da aber lieber keine Verbindung zu Deiner Taufe sehen. Denn Heine legt in diesen Satz ja – ganz sarkastisch – seine Unzufriedenheit, dass solch ein „Zettel“, wie er es nannte, überhaupt nötig war, um nicht immer nur draußen vor zu bleiben.

Und er musste dann die Enttäuschung erleben, dass dieses ‚Entréebillett‘ ihn nicht wirklich eintreten ließ. Die gleiche Enttäuschung, die Du dann ja auch erfahren musstest, als der Arierparagraph zeigte, dass die Taufe gar nichts wert war.

Die Frau meines Studienkollegen hat sich vor ihrer Hochzeit vor 30 Jahren nicht taufen lassen und versteht sich bis heute als Jüdin. In der ersten Kirchengemeinde, in der die beiden als Pfarrerehepaar lebten, gab es dann prompt Probleme, weil die beiden sich nicht dazu entschließen konnten, ihre Kinder als Babys zu taufen. Das war für die Gemeinde schwierig, dass der Pfarrer, der ihre Kinder taufte, seine eigenen nicht taufte. Eine Zeitung titelte damals: „Wenn die Pfarrfrau aus dem Volk Jesu stammt“. Diese Überschrift fiel mir bei Eurer Pfarrerehe, liebe Bertha, wieder ein. Denn diese journalistische Schlagzeile formuliert kurzgefasst viel tiefgründiger, als Theologen es ausführen könnten, dass das, was manche vielleicht als Anstoß empfinden, im Grunde ein besonderes Geschenk ist, ja als ein Glücksfall angesehen werden müsste.

Bei meinem Studienkollegen und seiner Frau hat die Gemeinde dazugelernt, und die dialogische Pfarrfamilie konnte jahrzehntelang segensreich wirken.

Dass man zu Eurer Zeit, liebe Bertha, noch weit von solcher Einsicht entfernt war, ist traurig genug.

Foto: privat

Allzu gern würde ich von Dir erfahren, wie die Mitglieder der Dreikönigsgemeinde Dich aufgenommen und sich Dir gegenüber verhalten haben: freundlich und herzlich, wie wir es im Epheserbrief hörten? Das einzige Foto, das wir von Dir und Deinem Mann kennen, hat in der Festschrift den Untertitel: Pfarrer Anton Urspruch mit Gattin auf der Morgenfahrt des Vereins der Dreikönigsgemeinde am 10. August 1930 nach Rumpenheim und vermittelt auf dieser Schifffahrt eine noch ungetrübte Stimmung. Und 1931 wurde dein Mann ja sogar Senior des Predigerministeriums, also der primus inter pares der lutherischen Stadtpfarrer. 

Und darunter waren ja durchaus etliche, die den Deutschen Christen anhingen und sogar als NSDAP-Mitglieder stramme Nazis waren.

Ich hoffe so sehr, dass Du in der Dreikönigsgemeinde keine direkten Anfeindungen anhören und aushalten musstest, keine Lästerung und Bosheit, wie es der Epheserbrief nennt.

Immerhin hatte Dein Mann seit 1931 einen feinfühligen Kollegen, Martin Schmidt, der an Eurer Seite stand und der zu Eurer Verabschiedung bedauerte, „dass sich über das letzte Stück Weges besondere Wolken getürmt haben, die das Herz des Mannes und seiner treuen, selbstlosen Lebensgefährtin beschwert haben.“

An dem Adjektiv „selbstlos“ bin ich hängengeblieben: Könnte „selbstlos“ auch andeuten, dass Du viel, zu viel von Dir selbst aufgegeben, hinter Dir gelassen hast?

Auch der Frankfurter Propst, Johannes Kübel, wollte Deinen Mann gern auf der Pfarrstelle behalten. Er schrieb zum Abschied: Infolge seiner Krankheit besaß Urspruch nicht mehr die Spannkraft, um die Anstürme, die wegen der Rasse seiner Frau in der letzten Zeit über ihn gekommen sind und die vielleicht noch kommen werden, positiv zu verarbeiten. Da frage ich mich: wie soll man denn Rassismus positiv verarbeiten? Das kann doch keine Frage der persönlichen Spannkraft sein!

Der von Hitler ausgerufene Judenboykott am 1. April 1933 – das war ja gerade Dein 59. Geburtstag – brachte Dir vermutlich erschreckende Nachrichten von Deinen Geschwistern aus deren Frankfurter Geschäft und Kanzlei; und es wundert mich nicht, dass das Ruhestandsgesuch Deines Mannes dann bald darauf auf den 29. April 1933 datiert.

Dein Mann und Du, Ihr wolltet nicht abwarten, bis im Herbst, wenige Monate nach Eurem Abschied aus der Dreikönigsgemeinde der Arierparagraph auch auf die Pfarrer offiziell ausgedehnt wurde und Dein Mann aus seinem Amt getrieben worden wäre, Deinetwegen sozusagen. Ihr wolltet dem zuvorkommen, dass die Kirche die an Dir vollzogene Taufe für nichtig und wertlos erklärt. Was für eine Bankrotterklärung der Kirche!
Ich stelle mir vor, dass der Vor-Ruhestand für Euch keine Zeit der Ruhe und Beruhigung war, sondern von Unruhe und Sorge durchzogen war.

Dein früher Tod im Jahr 1935 hat Dich davor bewahrt, hilflos mitanzusehen, wie Deine Geschwister und ihre Familien nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet wurden, und ich will mir gar nicht ausmalen, ob dieses Schicksal früher oder später auch Dich ereilt hätte.

Über den Abstand der Zeit hinweg möchte ich Dir, liebe Bertha, jedenfalls sagen: Mir bedeutet es viel, dass es in meiner Gemeinde einmal eine Pfarrfrau gab, die aus dem Volk Jesu stammte. Amen.

Predigttext: Epheserbrief 4,25+29-32

"Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. … Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es hören. Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit.Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus."

Kurzbiografie Pfarrer Anton Urspruch:

Foto: privat

Anton Urspruch wurde 1869 in Frankfurt als Sohn eines Kaufmanns in eine künstlerisch veranlagte Familie geboren. Seine Großmutter väterlicherseits stammte aus einer jüdischen Kantorenfamilie in Unterfranken. Sein Onkel gleichen Namens war ein bekannter Komponist und Lehrer für Klavier und Komposition am Hoch’schen Konservatorium.

Nach dem Theologiestudium in Halle und dem Militärdienst in Frankfurt wurde er 1896 zunächst dem Dreikönigspfarrer Krebs als Vikar beigegeben und danach Hilfsprediger in der neugegründeten Luthergemeinde. 1899 wurde Anton Urspruch Pfarrer an der Paulskirche, damals die erste lutherische Hauptkirche Frankfurts. Er gehörte zu den Initiatoren der 1911 eingerichteten „Evangelischen Zentralstelle für Fürsorgeerziehungs- und Jugendgerichts-angelegenheiten“, einer bahnbrechend neuen Einrichtung der kirchlichen Jugendhilfe in Frankfurt.

1925 wechselte Anton Urspruch von der Paulsgemeinde in die Dreikönigsgemeinde, die sich durch die Gründung der freikirchlichen Stephanusgemeinde durch einen ehemaligen Dreikönigspfarrer in einer schwierigen Situation befand.  1931 wurde er zum Senior des Predigerministeriums gewählt und stand damit protokollarisch an der Spitze der lutherischen Stadtpfarrer.

Anton Urspruch war ein gesuchter Prediger und beliebter Seelsorger und begleitete sehr oft Menschen, die vom Judentum zum evangelischen Christentum konvertieren wollten und von ihm getauft wurden. 1908 heiratete er die aus einer jüdischen Gießener Kaufmannsfamilie stammende Bertha Grünebaum. Ihre Taufe fand vermutlich im Zusammenhang mit der Eheschließung statt. Die Ehe blieb kinderlos.

Wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau war Anton Urspruch gleich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten heftigen Anfeindungen ausgesetzt und ging aus gesundheitlichen Gründen im Herbst 1933 vorzeitig in den Ruhestand. Bertha Urspruch starb 1935.

1937 geriet Anton Urspruch ins Visier der Gestapo, die ihn verdächtigte, über eine jüdische Bekannte Post aus dem Ausland zu beziehen. Während des Krieges wurden drei in Frankfurt lebende Geschwister seiner Frau nach Lodz bzw. Theresienstadt deportiert und kamen dort um.

Anton Urspruch starb 1942 in Bad Tölz und wurde in Frankfurt beigesetzt. Das heute nicht mehr erhaltene Grab auf dem Hauptfriedhof wurde jahrzehntelang im Auftrag der Paulsgemeinde und der Dreikönigsgemeinde unterhalten und gepflegt.

(Carsten Schwöbel)

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