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Predigt zum Holocaust-Gedenkgottesdienst: Thema „Euthanasie“

Predigt gehalten am 27. Januar 2019 von Pfarrer Martin Stöhr in der Dreikönigskirche

I

Die Liste der unschuldig Ermordeten in der sog Euthanasie-Aktion ist viel länger als die der NSU-Morde: Über 300 000 Menschen wurden gegen ihren Willen sterilisiert, über 100 000 vergast oder durch Spritzen getötet. Es ist ein Krieg gegen die Schwächsten einer Gesellschaft, gegen Kranke und Behinderte.

Für ein solches Programm suchen die Macher einen schön-harmlosen Namen: Euthanasie. Dieses Wort, auf Deutsch „schöner Tod“ oder „Gnadentod“, verschleiert mit den Worten „schön“ und „Gnade“ die Tatsache, dass anderen Menschen ihr Leben einfach genommen wird. Das Wort Euthanasie rückt den Mord an Behinderten in die Nähe zu einem „Gnadenschuss“, den man setzt, wenn ein Tier nicht mehr brauchbar ist.

Die Grundgedanken der Euthanasieaktion sagen klipp und klar: Nicht alle Menschen sind brauchbar, einige sind überflüssig, zB all jene, die von einer Autorität oder von Mächtigen als schwach definiert werden. Damit das auch die Jüngsten begreifen, fragt 1936 ein Schulbuch, wie viel Geld zu sparen wäre, wenn man nicht täglich im Durchschnitt 4.—RM für die etwa 300 000 „Krüppel, Geisteskranken und Verbrecher“ in den Anstalten im Deutschen Reich ausgeben müsse. Antwort: Für alle nützlichen Menschen stünden dann 1 Milliarde Reichsmark mehr zur Verfügung.

Was in der NS-Zeit geschieht hat zwei berühmte wissenschaftliche Vordenker: Der Jurist Karl Binding, aus der großen Frankfurter Bierbrauerfamilie Binding sowie Karl Hoche, ein schlesischer Mediziner und Pfarrersohn. 1920 veröffentlichen sie gemeinsam ein Buch mit dem programmatischen Titel: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Das Buch beschäftigt sich mit Behinderten, nennt ihr Leben ein „lebensunwertes Leben“. Sie werden volkswirtschaftlich als unnütze Esser betrachtet, sie rechnen sich nicht und tragen nichts zum Wachstum des Bruttosozialprodukts bei. Weg mit ihnen.

Was „undenkbar“ scheint, wird aber gedacht und gemacht. Es ist deutlich: Man musste kein Nazi sein, um seine Mitmenschen zu sortieren – und zwar in wertvolle oder wertlose. Die NS-Machthaber haben die Euthanasie nicht erfunden, sie finden sie in der Mitte der Gesellschaft vor und setzen sie resolut als Massenmord in Gang. Neben dem Beitrag von Wissenschaft und Staat verbreiten auch einige Künstler diese Ideen. ZB lässt der NS-Staat zum Auftakt des Vernichtungsplans von dem Star -Regisseur Wolfgang Liebeneiner den Film drehen „Ich klage an!“ Eine Frau, unheilbar an Multipler Sklerose erkrankt, wünscht sich selbst zu töten. Sie bekommt aktive Hilfe. Man greift damit eine weitverbreitete Volksstimmung auf: Das Leben von Schwerstbehinderten gilt als ein wertloses, aber qualvolles Leben. Da kann man dem Tod doch ein wenig nachhelfen? Ein anderer Regisseur, Veit Harlan, verfilmt den 1933 zur deutschen Staatsreligion gewordenen Antisemitismus mit dem Kinoerfolg „Jud Süss“.  Zwei deutsche Mordprogramme gegen Behinderte und gegen Juden finden ihre Könner und Künstler. Das Volk widerspricht kaum.

II

Jetzt schalte ich aus der gesellschaftlichen Szene um in eine persönliche Erfahrung. 1945 wird die Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern wieder der Inneren Mission zurückgegeben und mein Vater, unbelastet, wird im Herbst 1945 mit der Leitung beauftragt, nachdem der Staat und die SS diese Heime von 1937 bis April 1945 beschlagnahmt hatten, um sie als  Zwischenstation auf dem Weg in die Mordanstalt Hadamar zu benutzen. Die Berliner Zentrale (Aktion T 4 = Tiergartenstr. 4) organisiert eine „Gesellschaft für Krankentransporte“, deren graue Busse auch nach dem Kriegsende noch panische Ängste auslösen. Ich habe das in Scheuern gesehen. Wer damit weggebracht worden war, kam nicht wieder; so viel wissen auch die zurück bleibenden Patienten.

In Jena überweist der bei Eltern beliebte Kinderarzt Jussuf Ibrahim 1944 sog. „nicht normale“, also behinderte Kinder in das KZ Auschwitz. Eine Strasse in Jena heisst bis vor kurzem Ibrahim-Strasse. Noch im April 1945 lassen Hamburger Behörden 10 Mädchen und 10 Jungen im Alter von 5 - 10 Jahren mit ihren zwei Lehrern aufhängen. Wir kennen das Schicksal von Günther Perlhefter. Beim 10.000sten Toten in Hadamar, so wird berichtet, wird gefeiert. Ein junger Arzt lässt einen toten Patienten im Speisesaal aufbahren, dazu gibt es Freibier für die Angestellten. In einem schwarzen Talar parodiert er eine christliche Beerdigungsansprache.

Damals widersprechen die Medien nicht, auch die politischen Gemeinden schweigen wie die christlichen, obwohl alles mehr oder weniger in der Öffentlichkeit geschieht. Hatte die Christengemeinde vergessen, dass ihr Herr und Meister Christus als Therapeut und Heiland besonders für die Mühseligen und Beladenen aktiv ist, egal ob sie körperlich, geistig oder seelisch leiden? Er steht bis heute dafür ein, dass

kein noch so schwach glimmender Docht, kein geknicktes Rohr (Jes. 42,3)

und kein noch so schwaches Leben ausgelöscht wird. Das Evangelium sagt den Menschen:

„Seht zu, dass ihr nicht eines von diesen Kleinen verachtet“ oder verloren gebt (Mt 18,10 +14).

Der evangelische Bischof Wurm und Kardinal Galen protestieren gegen das Töten Unschuldiger, u.a. mit dem Argument dann müsse man auch hirnverletzte Soldaten töten. Mutiger ist der brandenburgische Amtsrichter Lothar Kreyssig, nach dem Krieg gründet er die „Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste“. Er fragt nach, weil man wissen muss, was man wissen kann, wenn es um Leben oder Tod geht. Es hatten sich die Todesmeldungen seiner behinderten Mündel vermehrt, für die er als Amtsvormund eingesetzt war. Sie seien an Herzversagen oder an Lungenentzündung gestorben. So lügt abwechselnd der Amtsarzt. Gern könne man gegen eine Gebühr der Familie die Urne mit der Asche zuschicken.

Kreyssig protestiert gegen den dahinter stehenden nationalistischen Satz „Recht ist was dem Volke nützt“. Er reist zu seinem Vorgesetzten ins Berliner Innenministerium, damals Adolf Eichmann und streitet mit ihm. Kreyssig betont, es sei „seine richterliche Pflicht für das Recht einzutreten; das will ich tun…damit nicht Kranke und Behinderte ohne Gesetz- und Rechtsspruch vom Leben zum Tod gebracht werden.“ Er wird als Richter sofort entlassen, versteckt aber bis zum Kriegsende einige Behinderte und Juden in seinem Haus. Er unterstützt wie auch die Hanauer Lehrerin Elisabeth Schmitz bedrohte Minderheiten vor staatlicher Verfolgung. Schmitz und Kreyssig widerlegen den billigen Satz: „Damals konnte man nichts machen!“ So eine Selbstentlastung schwächt die in Deutschland ohnehin kränkelnde Zivilcourage. Schmitz und Kreyssig zeigen: Gewalt hat nur Erfolg, wenn die Mehrheit der Bevölkerung wegschaut oder schweigt. Besonders, wenn von einer Menschengruppe gesagt wird „die gehören nicht hierher. Sie gehören nicht zu uns.“ Und so etwas sagt ja nicht nur die AFD.

Ein jüdischer Überlebender fragt mich später, warum es einen zwar kleinen, aber doch tapferen Protest der Kirchen für euthanasie-gefährdete Christen gab, aber nicht für die bedrohten jüdischen Nachbarn? Jesus sei doch Jude. Hätte Jesus in einer rassistischen Gesellschaft damals eine Überlebenschance gehabt? Als Jude war er nach den Gesetzen der NS-Zeit zur Vernichtung in Auschwitz oder Majdanek vorgesehen.

III

Die Bibel hat einen doppelten Blick auf den Menschen. In vielen Psalmen verdichtet sich die menschliche Erfahrung in der realistischen Einsicht: Dem Menschen sind Grenzen gesetzt, er ist sterblich

„wie Gras, das vergeht, wie eine Blume, die blüht und verwelkt“ (Psalm 103,15; 1.Petrus 1,24).

Das ist der eine Blick auf uns Menschen. Aber er erlaubt wahrhaftig nicht, sich vom mitmenschlichen Tun selbst zu beurlauben. Der andere Blick stammt aus dem Loblied auf jeden Menschen, obwohl der Mensch heutzutage milliardenfach vorkommt, bleibt Psalm 8 gültig:

„Was ist der Mensch, Gott, dass du seiner gedenkst? Und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Hoheit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrscher gesetzt über die Werke deiner Hände, alles hast du ihm unter die Füsse gelegt.“

Uns Menschen ist die Verantwortung für eine humane Gestaltung der Schöpfung wie der Geschichte anvertraut. Diese Würde ist darin begründet, dass ein jeder Mensch Gottes einmaliges und kostbares Ebenbild ist, sei er noch so schwach oder gefährdet. In unserer göttlichen Ernennungsurkunde steht:

„Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt 5,48).

Obwohl jeder Mensch weiss: „Nobody ist perfect“ gilt dieser Satz, denn die gottgegebene Würde eines jeden Menschen ist unantastbar Und sie wirkt mit ihrer Gestaltungskraft auch über die Kirchengrenzen hinaus. So werden die Menschenrechte als ein Teil des biblischen Erbes z.B. in der Reformation als Gewissensfreiheit stückweise erkämpft. Sie zeigen sich in der Aufklärung und im Pietismus in einer anspruchsvollen Stärkung des Individuums, wenn es um die eigene Glaubensentscheidung geht.  

Wenn über die Fragen, wie wir leben, zusammenleben und überleben wollen, nicht leidenschaftlich zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen Konfessionen und Religionen diskutiert wird, dann verdorrt die Mitmenschlichkeit und es blüht die Gleichgültigkeit. Das beschreibt schon 1835 der französische Diplomat Alexis de Tocqueville:

„Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rasch um sich selber drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen … aber sie sind dem Schicksal anderer Menschen gegenüber unbeteiligt und desinteressiert.“

Gegen eine solche Gleichgültigkeit setzt Gott mit seinem Messias Jesus jüdische und christliche Gemeinden in die Welt. Es geht um Nächstenliebe bis zur Feindesliebe, um Recht und Gerechtigkeit. Deshalb wundere ich mich über das Bekenntnis des Vorstandsvorsitzenden der Allianz-Versicherung, der in einem Zeitungsinterview sagt:

„Gerechtigkeit ist für mich ein marxistischer Begriff. Ich weiss nicht was das ist.“ (ZEIT Nov. 2018).

Wer Ungerechtigkeit oder Lieblosigkeit erleidet, der weiß sehr wohl, was die fehlende Gerechtigkeit und Liebe ist. Nicht die Selbstbetrachtung öffnet uns die Augen, das tut einmal die genaue Wahrnehmung jener Mitmenschen, die schlecht dran sind, und zum andern die biblischen Maßstäbe Gerechtigkeit und Liebe.

Mich beeindruckt die wirklich gelebte Auslegung der Bibel durch den mutigen Juristen Lothar Kreyssig, dass zum biblischen Verständnis von Recht und Gerechtigkeit gehört, dass niemand zu Tode gebracht wird, denn Gott hat allen seinen Menschenkindern ein menschliches Leben zugedacht, geprägt von Gerechtigkeit und Liebe.  Amen.

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