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Sommerpredigt 2023: Bessere Gerechtigkeit

Gottesdienst aus der Bergkirche

Liturgie und Predigt: Pfarrer Thomas Sinning

Predigttext: Matthäus 5, 17-20

17 Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. 18 Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. 19 Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. 20 Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

Predigt am 2023-08-06 Matthäus 5, 17-20 von Thomas Sinning

Liebe Gemeinde,

in der Bergpredigt spricht zu uns Jesus, der Rabbi. Der Lehrer der Tora. Das wird in unserem heutigen Predigttext besonders deutlich.

Mit Gesetz ist die Tora gemeint, also die fünf Bücher Mose in unserer Bibel, zusammen mit den Propheten und den Schriften bildet sie die Hebräische Bibel. Und diese ist auch die Bibel Jesu, die Bibel des Apostels Paulus und der ersten Christen. Und sie ist ein unverzichtbarer Teil unserer Bibel. Daran hat sich nichts geändert.

Jesus öffnet uns die Augen für die Tora, für die hebräische Bibel, die für jeden Juden eine ganz besondere, einzigartige Bedeutung hat. Für Jesus steht das nicht infrage. Auch für uns?

Ja, auch für uns. Da ist Jesus eindeutig:

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.

Machen wir uns das erst einmal bewusst: Jesus war Jude durch und durch. Acht Tage nach seiner Geburt wurde er beschnitten. Er wächst jüdisch auf. Lernt die Heilige Schrift lesen, lernt ihr wichtigsten Teile auswendig. Er isst und trinkt koscher. Er verspricht bei seiner Bar Mizwa der Tora die Treue (davon erzählt wohl auch die Begebenheit des zwölfjährigen Jesus im Tempel). Er hat Freude am Gesetz Gottes, an der Tora; er teilt die Freude, wie sie etwa im 19. Psalm besungen wird.

Wer Jesus Christus begegnet, kommt am Judentum nicht vorbei. Kommt nicht umhin, die Tora schätzen zu lernen.

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen

, sagt Jesus.

Warum ist das Gesetz, die Tora Jesus so wichtig? Um das zu verstehen, müssen wir uns wohl ein wenig von dem Begriff „Gesetz“ trennen. Denn er könnte uns in die Irre führen. Die Tora ist nicht einfach nur Gesetz, das es zu befolgen gilt, so wie das BGB oder das Strafgesetzbuch.

Das Gesetz Gottes, die Tora, ist etwas anderes. Ist weit mehr: Weisung, Wegweiser zum gelingenden Leben, ein Leitfaden zur Bewahrung und Bewährung der Freiheit. Es ist Gottes Geschenk, es ist gute Botschaft, es ist Evangelium.

Die Tora erzählt von Gottes Anfang mit der Welt, der ganzen Menschheit; erzählt davon, wie er sich nach einer Beziehung zu den Menschen sehnt und seinen Segen auf sie legt.

Sie stellt dann aber die besondere Geschichte Gottes mit seinem Volk in den Blick. Wie er es erwählt, befreit aus der Knechtschaft unter der Führung des Mose, wie er es segnet, wie er leidenschaftlich und treu zu seinem Bund mit Israel steht. Wie er für die Armen eintritt, die mehr als Mitleid verdienen. Ein Anrecht auf Gerechtigkeit haben sie, nicht weniger. Und wie Gott leidenschaftlich für die Fremden eintritt: Vergesst niemals, ihr seid selbst einmal Fremde, Ausgestoßene auf der Flucht gewesen, damals in der ägyptischen Sklaverei.

Ein gerechter Gott - und noch mehr ein Barmherziger spricht in der Tora zu den Menschen. Und die Propheten bezeugen es und werden nicht müde, anzuklagen, wenn die Tora Gottes missachtet wird.

So wertvoll ist die Tora, ist die ganze Hebräische Bibel, das „Gesetz und die Propheten“, weil in ihnen Gottes Bund mit seinem Volk begründet wird. Und auch wenn wir als Nichtjuden in diesen Bund Gottes mit hineingenommen werden durch Jesus, so bleibt doch der Grund bestehen.

Darum wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, zu meinen, dass Jesus die Tora aufgehoben hätte. In der Geschichte der Kirche ist dies jedoch ein schwerer und über Jahrhunderte währender Irrtum gewesen. Und es gibt ihn bis heute. Der Irrtum, als habe Gott seine Zuwendung zu den Israeliten aufgekündigt und stattdessen den Christen gegeben. Dieser Irrtum hat schließlich auch dazu beigetragen, dass die Schoa möglich wurde.

Jesus sagt dazu ganz klar nein.

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.

Sogar das kleinste Zeichen, das in der hebräischen Bibel steht, hat Bestand. Im Hebräischen kann ein einzelner Buchstabe, kann sogar ein kleiner Punkt oder ein Häkchen einen Unterschied in der Bedeutung machen. Nichts davon stellt Jesus infrage. Gottes Wort gilt.

Jesus will die Tora und die prophetischen Worte erfüllen. Das meint nicht: Jesus hält die Gebote ein, deshalb sind sie für uns nicht mehr wichtig. Nein. Das bedeutet es nicht.

Wenn Jesus sagt, dass er die Worte der hebräischen Bibel erfüllen wird, dann meint das soviel wie: bestätigen, seine Gültigkeit unterstreichen. Und das geschieht, indem er die Gebote so auslegt, dass ihr Sinn zur Geltung kommt. Dass das, was Gott von den Menschen erwartet, von Jesus klar und deutlich gemacht wird. Und genau das tut er in der Bergpredigt, wenn er die Gebote vom Tötungsverbot, vom Verbot des Ehebruchs, vom Schwören und vom Fasten auslegt. Er tut es, wenn er den strengen Pharisäern klarmacht, dass der Sabbat für den Menschen da ist und nicht umgekehrt.

Damit erweist sich Jesus als ein Lehrer der Tora. Einer, der die Gebote zur Geltung bringt. Und das tut er, indem er sie dem Liebesgebot unterordnet. Das höchste Gebot ist für Jesus das Gebot, Gott von ganzem Herzen, mit allen Kräften und mit ganzer Seele zu lieben, und den Nächsten zu lieben wie sich selbst. So steht es in der Tora. (5. Mose 6, 4 und 3. Mose 19,18) Das, so sagt Jesus - genau wie auch andere jüdische Lehrer übrigens, auch der Schriftgelehrte, mit dem Jesus ins Gespräch kommt (Lukas 10, 25ff) - ist das höchste und wichtigste Gebot. Wer sich daran orientiert, ist auf dem richtigen Weg, die Tora zu erfüllen. Das veranschaulicht Jesus mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Wer das Liebesgebot hintanstellt, wer es vergisst und nicht an die erste Stelle setzt, der stellt das ganze Gesetz, der stellt alles, was die Tora und die Propheten sagen, infrage. Dem fehlt der entscheidende Maßstab zu ihrer Auslegung. Denn ohne die Liebe ist alles nichts.

Dieses Gebot interpretiert Jesus an anderer Stelle auch mit einfachen Worten; nämlich mit der Goldenen Regel:

„Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Matth. 7,12)

Diese Interpretation des Liebesgebotes ist der Schlüssel, um die Gebote richtig auszulegen und anzuwenden.

Darum kritisiert Jesus die Pharisäer und Schriftgelehrten so vehement. Denn sie sind zwar auf die penible Einhaltung der aus der Tora abgeleiteten Regeln bedacht und zeigen dies gerne demonstrativ, aber dahinter verbergen sich oft ganz andere Interessen, nicht zuletzt auch das Bedürfnis, sich an den Opfergaben der Menschen zu bereichern und selbst vor anderen gut da zu stehen. Das ist für Jesus Heuchelei. (-> Mt. 23)

Die bessere Gerechtigkeit ist die, die sich nicht darin erschöpft, den Wortlaut einzelner Gebote zu verstehen und daraus Vorschriften für jede Lebenssituation abzuleiten, sondern die bessere Gerechtigkeit besteht darin, das Recht mit Barmherzigkeit, mit Liebe und mit einem tiefen Vertrauen auf Gott zur Geltung zu bringen (Matth. 23, 23), und sich dabei in den anderen empathisch hineinzuversetzen.  

Jesus wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass nicht das wichtig ist, was von außen an Frömmigkeit zu sehen ist, sondern vielmehr das, was jemand mit einem ehrlichen Gewissen und ohne eigensüchtige Hintergedanken tut. Das ist die „bessere Gerechtigkeit“.

Ohne Liebe ist alles nichts. Das ist es, was Jesus nicht nur in seiner Verkündigung, sondern genauso auch in seinen Taten und mit seinem ganzen Leben bis zu seinem Sterben am Kreuz deutlich macht. Auch in diesem Sinn hat Jesus die Tora erfüllt, mit Leben gefüllt.

Diese Auslegung der Gebote Gottes, liebe Gemeinde, hat eine über die jüdisch-christliche Tradition weit hinausreichende Kraft. Liebe als die Erfüllung der Tora ist zugleich Liebe als religiöse Reife überhaupt. Eine Kraft Gottes, die die Welt verändern kann. Auch uns. Amen.

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