Sommerpredigt 2023: Nicht sorgen
Gottesdienst am 20.08.2023 am 11. Sonntag nach Trinitatis in der Dreikönigskirche
Liturgie und Predigt: Pfarrerin Silke Alves Christe
Predigttext, Matthäus 6, Verse 25-34
Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?
Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?
Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?
Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.
Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.
Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.
Predigt
Liebe Gemeinde!
Der heutige Abschnitt aus der Bergpredigt hinterlässt wohl bei vielen von uns einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite schneidet er ein Thema an, das uns unter den Nägeln brennt: die Sorge. Unsere Zeit ist bestimmt von so vielen Gründen zur Sorge: der nicht endende Krieg in Europa, die weltweiten Klimaveränderungen, deren Folgen uns immer näher auf die Pelle rücken, die Ratlosigkeit der Politik angesichts vieler beängstigender Themen. Wir selbst haben vielleicht heute Morgen persönliche Sorgen mit in diesen Gottesdienst gebracht: familiäre, berufliche, gesundheitliche oder gar finanzielle Sorgen. Und wer von uns wollte da nicht etwas Wegweisendes von Jesus hören, was ihm hilft, seine Sorgen loszuwerden oder auch nur für eine Weile vergessen zu können. Auf der anderen Seite scheint das Rezept, das Jesus gegen die Sorgen anzubieten hat, allzu simpel und realitätsfern zu sein: Sorgt euch nicht, Gott wird es schon richten! Macht euch keine Sorgen, Gott sorgt für euch!
Aber geht das so einfach? Gehen die Sorgen mit ein wenig Gottvertrauen weg? Ja, gehört das Sorgen, die Vorsorge nicht zu uns Menschen untrennbar dazu? Wir müssen doch immer irgendwie sinnvoll planen, in die Zukunft schauen, Vorsorge und Sicherungen treffen, sei es für uns allein, sei es für andere. Wir müssen das tun, weil wir endliche, bedürftige, aber auch denkende, vorausdenkende Geschöpfe sind, die nicht alles dem Zufall und dem Glück überlassen können. Und diese Sorge für das Kommende, dieser Blick in die Zukunft: der ist eben nicht nur leicht und unbeschwert, sondern oft von Problemen belastet und überschattet! Doch sollte Jesus dies alles nicht gewusst oder vergessen haben? Wollte er wirklich, dass wir uns auf das Niveau von Himmelsvögeln oder Blumen auf dem Feld begeben?
Aber könnte Jesus nicht auch – so die Gegenfrage – zwischen Sorge und Sorge unterschieden haben?
Zwischen einer Sorge, die zu uns Menschen als Menschen gehört, ohne die wir gar nicht sein können – und einer Sorge, die eben eine falsche Sorge ist, von der Menschen und gerade Christen sich frei machen sollen?
Ich möchte unseren heutigen Predigttext etwas aufschließen und eine Antwort auf die gestellten Fragen suchen, indem ich auf ein Wort des dänischen Religionsphilosophen Søren Kierkegaard zurückgreife. Kierkegaard schreibt einmal: Die höchste Aufgabe des Menschen besteht darin, „zugleich sich absolut zum absoluten Ziel und relativ zu den relativen (Zielen) verhalten zu können, oder: das absolute Ziel immer bei sich zu haben“. Was zunächst ein wenig schwierig und kompliziert klingt, ist aber ein letztlich einfacher und einleuchtender Sachverhalt:
Wir Menschen sollen uns, so sagt der Philosoph, absolut, also unbedingt und ohne Einschränkung zum Absoluten,
d.h. zu Gott und dem letzten Ziel unseres Lebens verhalten. Uns auf Gott auszurichten, uns an ihn zu halten, auf ihn zu vertrauen: das sollen wir nicht nur ein wenig, nicht nur halb, also relativ, sondern mit unserer ganzen Existenz, mit allen Fasern unseres Daseins tun. Nichts Wichtigeres darf es für uns geben! Dagegen zum Relativen oder zu den relativen Zielen, also zu allem, was nicht Gott ist, sollen wir uns auch nur relativ verhalten, es nicht zu etwas Letztem, Absolutem, uns unbedingt Angehenden hochstilisieren. Wichtig ist für Kierkegaard, dass beides zugleich geschieht, sozusagen ineinander und miteinander zu leben ist. Wir sollen uns zugleich absolut zum Absoluten und relativ zum Relativen verhalten! D.h. konkret: Wer sich ganz auf Gott ausrichtet, unbedingt von ihm her leben will, der muss dazu nicht die Welt und die Menschen verlassen, etwa ins Kloster gehen, nein, er soll seine absolute Ausrichtung auf Gott mitten im Leben, mitten im Alltag vollziehen. Und umgekehrt darf der, der mitten in den Aufgaben und Verpflichtungen des Berufs und des Alltags steht, die unbedingte Ausrichtung auf das Absolute, auf Gott nicht vergessen und aus dem Auge verlieren.
Liebe Gemeinde, würde unser Leben nicht in der Tat ein gelingendes, glückendes Leben sein, wenn wir dieses Wort Kierkegaards stärker beherzigen könnten: dass wir uns zugleich absolut zum Absoluten und relativ zum Relativen verhalten? Also ganz und unbedingt auf Gott ausgerichtet wären und zugleich den Dingen und Aufgaben des Lebens, der Welt zugewandt, ohne sie aber selbst zum Absoluten, zu Gott zu machen. Und rühren nicht all unsere Probleme, unser Unglück und auch unsere Sorgen daher, dass wir es zumeist umgekehrt praktizieren: Wir verhalten uns relativ zum Absoluten, wollen ein wenig mit Gott zu tun haben, ein wenig an ihn glauben und religiös sein. Zum Relativen dagegen verhalten wir uns absolut, d.h. wir erhöhen uns selbst und die Dinge dieser Welt, aber auch unsere Aufgaben und Probleme zu etwas Absolutem und Letztem. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir ganz Ernst machen würden mit Gott, uns ihm völlig, also absolut überlassen könnten: wir hätten keine Sorgen mehr, wir würden uns keine Sorgen mehr machen, weil wir uns ganz bei ihm geborgen, ganz von ihm her getragen wüßten. Und gerade dann könnten wir ruhig und besonnen uns um das Unsere, um das, was wir in der Verantwortung für andere zu tun haben, kümmern. Und wir wären fähig, wenn es anders käme, als wir es erstrebten oder meinten, dass es gut für uns wäre, dies aus dem Verwurzeltsein im Absoluten, also in Gott zu tragen, zu ertragen und produktiv damit umzugehen. Sorgen haben wir letztlich nur deshalb, weil uns genau diese entschiedene Option für Gott nicht gelingt oder nur halbherzig, nur relativ gelingt!
Sich zugleich absolut zum Absoluten und relativ zum Relativen zu verhalten. Ich denke, von daher wird verständlich, was Jesus meint, wenn er sagt:
„Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.“
Jesus meint damit natürlich nicht, dass wir Menschen nicht mehr arbeiten sollten, nicht mehr in vernünftiger Weise Vorsorge für die Zukunft treffen sollten oder nicht mehr unseren Aufgaben und Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber nachzukommen hätten. Nach dem Motto: Ich lege die Hände in den Schoß, Gott wird es schon richten! Das wäre im höchstem Maße verantwortungslos! Wir Menschen können nicht einfach so tun, als wären wir Vögel am Himmel oder Blumen auf dem Feld. Arbeit und in diesem Sinne Sorge und Vorsorge gehört zu uns Menschen, auch nach biblischem Verständnis. Oder mit Kierkegaard gesagt:
Wir sollen uns relativ zu allem Relativen verhalten.
Und dabei sollen wir durchaus sorgsam und sorgfältig sein!
Aber was Jesus nicht will, ist, dass diese Sorge uns völlig beherrscht und über uns Herr wird. Dass wir unser Leben so leben und planen, als ob alles nur von uns und unserer Sorge abhinge. Denn dann treten wir in einer großen Anmaßung, die zugleich große Verzweiflung ist, an die Stelle Gottes selbst, weil wir uns einbilden, dass wir im letzten unser Leben bewahren und garantieren könnten. Gott hat dann gar keine Chance, keine Möglichkeit mehr, helfend und rettend in unser Leben einzugreifen. Wir verhalten uns dann absolut zum Relativen, sehen in unserer eigenen Person, aber auch in den Dingen des Lebens und der Welt sowie in unserem Arbeiten und Sorgen etwas Letztes, Unbedingtes, von dem alles abhinge. Oder anders formuliert: Wir stehen dann nicht mehr absolut zum Absoluten, d.h. wir vertrauen nicht mehr unbedingt auf Gott, wir rechnen nicht mehr mit dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, das uns Zukunft sogar über den Tod hinaus eröffnet. Doch Jesus sagt uns nüchtern, wie vergeblich und illusionär solche absolute Sorge letztlich ist:
„Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“
Gewiss, die moderne Medizin hat manches an Lebensverlängerung möglich gemacht, was wir dankbar annehmen, aber das jedem von Gott zugewiesene Lebensmaß können wir nicht überschreiten, geschweige denn den Tod ganz beseitigen, so sehr wir uns in mitunter fragwürdiger Weise auch darum bemühen.
Liebe Gemeinde, jetzt erkennen wir, wie Jesus unterscheidet zwischen Sorge und Sorge: Er verbietet nicht die relative Sorge um die Dinge dieses Lebens und dieser Welt. Sie gehört zu unserem Menschsein dazu und wir legen sie durch unser Christsein nicht ab. Aber Jesus untersagt seinen Jüngern jene Sorge, die nicht mehr mit Gott rechnet, die sich so wichtig nimmt, als gäbe es Gott nicht, und die nichts anderes ist als ein Ausdruck des Unglaubens, ja der Leug-nung Gottes. Jesus will uns freimachen von jener Sorge, die nicht mehr fähig ist, mit der Liebe und Güte Gottes zu rechnen und auf sie zu vertrauen. Um Gottvertrauen geht es! Nicht darum, sorglos und unverantwortlich in den Tag hinein zu leben, sondern in allem Sorgen und Planen, in allem Mühen und Arbeiten sich die Fähigkeit, auf Gott zu vertrauen, zu bewahren, auch und gerade dann, wenn wir selbst einmal nicht mehr weiter wissen und unsere Möglichkeiten an eine Grenze stoßen.
Der Genfer Reformator Johannes Calvin hat es auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt:
„Wenn wir Christi Worte richtig verstehen, untersagt er uns nicht jegliche Sorge, sondern nur solche, die aus dem Mißtrauen genährt wird. [...] Denn der Unglaube ist der Vater aller Sorge, die das Maß übersteigt.“
Liebe Gemeinde! Relative Sorge ja, absolute Sorge nein. Sich relativ zum Relativen und absolut zum Absoluten zu verhalten, aber eben nicht umgekehrt! Man könnte nun dagegen einwenden, dass dies alles zutrifft und richtig ist, wenn es um mich selbst und meine Angelegenheiten geht. Da kann es mitunter wirklich sehr wohltuend sein, sich und das Seine, die eigenen Probleme und Schwierigkeiten nicht so wichtig zu nehmen, nicht absolut zu setzen, sondern mehr auf Gott zu vertrauen und gelassener zu sein. Aber gilt das auch, wenn es sich um unsere Verantwortung für andere handelt, für Menschen, die uns anvertraut sind, die uns nahestehen, die wir lieben? Gilt da nicht sehr wohl eine absolute Sorge, ein unbedingtes Besorgtsein, also – mit Kierkegaard zu reden – ein absolutes Verhalten gegenüber dem Relativen?
So sehr es richtig ist, dass wir in der Sorge und Fürsorge für andere all unsere Kräfte, all unsere Hingabe, all unsere Liebe einsetzen sollen, so gilt doch auch hier, so möchte ich behaupten, das Wort Kierkegaards: Wir sollen uns zugleich absolut zum Absoluten, aber relativ zum Relativen verhalten. Auch der Mitmensch, der Freund, der Ehepartner, das eigene Kind, dem unsere Sorge gilt, ist nicht nur auf uns angewiesen, nicht nur unserer Sorge anvertraut. Da ist noch ein anderer, der sich um ihn sorgt, sich um ihn kümmert, von dem er getragen und gehalten ist, was immer auch geschieht: nämlich Gott selbst, der schon, ehe wir ihn darum bitten, weiß, was uns nötig ist. Und so darf ich auch bei allem Einsatz, bei aller Sorge für andere, die vielleicht meine ganzen physischen und seelischen Kräfte beansprucht, doch getrost und gelassen sagen: An mir liegt es letztlich nicht, da ist noch einer, der nicht schläft und schlummert, sondern höchst engagiert um den mir anvertrauten Menschen besorgt ist. Das bewahrt mich vor der Verzweiflung und gibt eine letzte Gelassenheit und Freiheit: An mir, an meiner Sorge hängt vieles, aber nicht alles! Und insofern gilt auch für unsere Fürsorge für geliebte Menschen: Sich zugleich absolut zum Absoluten und relativ zum Relativen zu verhalten.
Liebe Gemeinde, es hat wahrscheinlich keinen anderen Menschen außer Jesus selbst gegeben, der dieses Wort vollständig gelebt und verinnerlicht hat, eben weil er ganz mit Gott verbunden und Gottes Sohn war. Wir anderen nähern uns diesem Wort immer nur an, bleiben vielfach dahinter zurück und sind deshalb auch so oft noch in der falschen Sorge gefangen. Aber bitten wir Jesus, dass er auch in diesem Punkt uns seinem Bild ähnlich mache! Amen.
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