Keiner ist vergessen
Gottesdienst zum Ewigkeitssonntag aus der Bergkirche
Liturgie und Predigt: Pfarrerin Silke Alves-Christe und Pfarrer Thomas Sinning
Predigttext: Johannes 6, 37-40
"Alles, was mir der Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich’s auferwecke am Jüngsten Tage. Denn das ist der Wille meines Vaters, dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage."
Predigt zum Ewigkeitssonntag am 20.11.2022 aus der Bergkirche
Liebe Gemeinde,
einen geliebten Menschen verlieren ist das Schlimmste. Das braucht man nicht erklären. Das ist so. Und viele, die heute in hier der Kirche sind, die heute auf den Friedhof zu den Gräbern gehen und Blumen bringen und Lichter anzünden, haben genau diese Erfahrung gemacht: einen geliebten Menschen verloren. Der Schmerz liegt vielleicht schon länger zurück, aber er ist noch zu spüren. Vielleicht aber ist er auch noch ganz frisch.
Einen geliebten Menschen zu verlieren ist das Schlimmste. Und doch geht es im Leben nicht ohne diese Erfahrung. Sie bleibt kaum einem erspart. Irgendwann. Denn dieser Schmerz ist ja auch ein Teil der Liebe, die wir füreinander empfinden. Deshalb ist es nicht nur schwer, sondern zugleich auch wertvoll, diesen Schmerz zu spüren.
Verlieren tut weh. Verlustängste durchziehen unsere Gefühle immer wieder. Wir haben Angst vor dem Verlust, weil wir lieben.
Und nun sagt Jesus hier:
„Das ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat.“
Verlieren ist gegen Gottes Willen. Verlust von geliebten Menschen – das soll nicht sein! Das sagt Gott, denn wir Menschen sind von ihm geliebt.
Ich erinnere mich an eine Bestattung, die für mich nicht einfach war. Ein Mann war gestorben, er hatte keine Angehörigen. Aber es gab eine ganze Reihe Menschen, die ihn offenbar recht gut kannten. Ich fragte mich durch um etwas über ihn zu erfahren, bei einer Familie, die Verbindungen zu ihm hatten, bei einem Kiosk, an dem er regelmäßig kaufte, bei Menschen, die mit ihm zusammen waren. Ich erfuhr einiges über ihn: Er hatte Glück in seinem Leben gehabt, aber auch das Gegenteil davon. Er war geschäftlich erfolgreich gewesen, doch am Ende hatte er wohl sehr viele Schulden hinterlassen. Ich fragte die Menschen, mit denen ich sprach: Kommen Sie zu der Beerdigung? Ja, schon, wurde mir gesagt.
Aus den verschiedenen Stimmen versuchte ich mir ein Bild zu machen und eine Trauerrede zu formulieren.
Dann kam der Tag der Beerdigung. Ich wartete in der Trauerhalle. Eine ganze Weile. Bis der Friedhofsbeamte zu mir sagte: „Da kommt wohl keiner mehr.“ Die Ansprache hatte ich umsonst vorbereitet. Aber die Gebete, die sprach ich für ihn; doch ich hatte dabei das Gefühl von einer traurigen Verlorenheit. Dieser Mensch hatte alle Menschen verloren, die er einst kannte. Keiner war gekommen, kein einziger. Ich bat schließlich den Friedhofsbeamten, wenigstens bis zum Vaterunser am Grab dabei zu bleiben. In diesem Moment ist mir deutlich geworden: Die Gebete haben in diesem Moment dafür gesorgt, dass dieser Mensch nicht verloren ist. Dass Gott ihn nicht vergessen hat.
Alle, die ihn kannten, hatten diesen Menschen vergessen. Vielleicht wollten sie ihn auch vergessen. Wer will mit einem zu tun haben, der einen Millionenbetrag an Schulden hinterlassen hat?
So ist das. Wir verlieren Menschen aus dem Blick. Wir geben Menschen auf. Wir schaffen es nicht immer, treu zu bleiben. Wir können einander verlieren.
Wenn wir mit einem Menschen in Liebe verbunden gewesen sind, bis zuletzt, dann erfahren den tiefen Schmerz der Trennung durch den Tod. Der Verlust tut weh. Denn Trauer ist eine besonders intensive Form der Liebe.
„Ich soll keinen von denen verlieren, die der Vater mir anvertraut hat“,
sagt Jesus Christus. Er birgt uns. Bei ihm geht keine und keiner verloren. Wie in einem weiten Mantel. Wie unter einem schützenden Dach.
„Alle, die mein Vater mir anvertraut, werden zu mir kommen. Und wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“
Da sind offene Arme, die mich empfangen. Da ist Nähe, ohne geben zu müssen. Da darf ich mich geborgen fühlen wie ein Kind. Weil wir Kinder Gottes sind.
So, wie Jesus sagt: „Mein Vater“, so dürfen auch wir von Gott reden: „Mein Vater.“ Wir gehören zur Familie. Wir sind geliebt für immer. Wir wissen, wo wir hingehören. Wir wissen, wo wir eine Heimat haben, die immer Heimat bleiben wird.
Diese Worte Jesu haben eine tröstende Kraft. Gott, der mich ins Leben gerufen hat, gibt mich nicht verloren. Er sendet Jesus als seinen Boten:
„Denn das ist der Wille meines Vaters: Alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben, werden das ewige Leben erhalten. Am letzten Tag werde ich sie vom Tod erwecken.“
Einer steht an meinem Grab, weil er mich nicht verloren gibt. Einer weiß um meine Lebensgeschichte mit den guten und schlechten Zeiten und allem dazwischen. Einer steht an den Gräbern auch der Kriege und Katastrophen dieser Zeit.
Es ist der, dessen Liebe am Kreuz selbst dem Tod standgehalten hat. Dieser eine ruft mich zum ewigen Leben; zum ewigen Leben, das die Fülle des Lebens ist. Er ist unsere Auferweckung.
Auferweckung heißt: Niemand geht verloren. Niemand wird vergessen. Auferweckung heißt: die Liebe bleibt. Ganz gleich, was auf dem Lebensweg an Enttäuschungen und Versagen, an Verlusterfahrungen und zerbrochenen Beziehungen gewesen ist. Diese Liebe bleibt. Denn sie hat in Gott ihren Ursprung.
Das Bild dafür ist die Liebe, die wir in unserem Leben erfahren können, die immer auch unvollkommen und zerbrechlich ist und manchmal auch traurig endet. Die Liebe, die wir Menschen geben und empfangen, in aller Unvollkommenheit, ist ein schwaches, aber wahres Abbild der Liebe Gottes. Denn sie trägt in sich eine Ahnung von erfüllter, von gelingender Liebe.
Die Realität der Auferweckung aber bleibt für uns ein Geheimnis. Etwas, das wir nicht beschreiben können, das wir nur als Ahnung haben von Leben, das immer noch ganz anders ist als unsere Vorstellungen. Das immer noch viel schöner, viel reiner, viel klarer ist als alles, was wir an Glück empfinden können. Wir könnten es gar nicht fassen, dieses neue Leben, das Gott uns durch Christus geben wird. Deshalb bleibt es hinter dem Horizont des Todes verborgen. Heute könnten wir es noch gar nicht fassen.
Jesus gibt uns Grund zur Hoffnung. Er eröffnet uns einen dankbaren Blick auf das Vergangene. Und er gibt uns Grund zur Freude bei dem Gedanken an das, was kommt. Denn Gott verliert uns nicht.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus unserem Herrn, Amen.
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