Dreikönigsgemeinde

Angebote und Themen

Herzlich Willkommen! Entdecken Sie, welche Angebote der Dreikönigsgemeinde zu Ihnen passen. Über das Kontaktformular sind wir offen für Ihre Anregungen.

Was mache ich, wenn...
Menümobile menu

Predigt im Gottesdienst zum Holocaust Gedenktag

Predigt gehalten von Pfarrer Martin Vorländer im Gottesdienst zum  Holocaust Gedenktag am 26.01.2020 in der Dreikönigskirche.

Philipper 2, 5-11

 „Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Liebe Gemeinde!

Es gibt Dinge, über die spricht man nicht. Das kann taktvoll sein. Man muss dem anderen nicht jede Wahrheit ins Gesicht sagen.

Es gibt Dinge, über die spricht man nicht. Dieser Satz kann aber auch in ein schädliches Schweigen führen. Da schluckt einer jeden Ärger runter und wird davon krank. Oder es geschieht Unrecht, das zum Himmel schreit, aber kein Mensch protestiert. Aus Furcht, es könnte einen selbst treffen. Oder aus Gleichgültigkeit.

Schweigen als Überlebensstrategie

Es gibt Dinge, über die spricht man nicht. Schweigen kann auch eine Überlebensstrategie sein. So war das in der Familie von Marlies Flesch-Thebesius. Als Hitler an die Macht kam, war sie zwölf, dreizehn Jahre alt. Ein Teenager oder „Backfisch“, wie man damals sagte.

In der Familie Flesch-Thebesius wurde aus Angst geschwiegen. Die Kinder sollten nicht darüber sprechen, dass sie jüdische Vorfahren haben. „Hauptsache Schweigen!“ – damit man nicht noch mehr ins Visier der Nationalsozialisten gerät.

Das Mundtotmachen hatte System. Je mehr Leute über den Terror schwiegen, desto ungestörter konnten die Nazis ihr massenmörderisches Programm umsetzen.

Die Kirche damals hat geschwiegen

Auch die evangelische Kirche damals hat beim Schweigen mitgemacht. Sie hat nicht protestiert, als die Nazis Jüdinnen und Juden erst entrechtet und dann deportiert haben nach Auschwitz, Buchenwald, Theresienstadt. Mehr noch: Die Kirche damals hat den Rassenwahn mitgemacht.

Arierparagraph und Ausschluss aus der Kirche

Bereits ab 1933 haben einige evangelische Landeskirchen den sogenannten Arierparagraphen eingeführt. Der verfügte: Wer nach den Begriffen der Nazis „nicht-arisch“ war oder mit einer „nicht-arischen“ Frau verheiratet, durfte nicht evangelischer Pfarrer oder Kirchenbeamter sein.

1941 gingen sieben Landeskirchen, die von den sogenannten „Deutschen Christen“ dominiert waren, darunter die damalige evangelische Kirche Nassau-Hessen, noch einen brutalen Schritt weiter. Sie schlossen alle Christen jüdischer Herkunft aus der Kirche aus. In ihrer Erklärung von 1941 steht:

 „Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart eines Juden, seiner Volkszugehörigkeit und seinem biologischen Sein nichts geändert. Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht.“[i]

Verrat an der Taufe, Verrat an Jesus

Mit solchen entsetzlichen Worten hat die evangelische Kirche damals Judenhass mit geschürt. Sie hat die Taufe verraten. Sie hat den Juden Jesus verraten, an dessen Kreuz stand: „INRI“. Die vier Buchstaben stehen für: „Jesus von Nazareth, König der Juden“.

Aber es gab einzelne Evangelische, die den Verfolgten geholfen haben. Solche Menschen hat die Familie Flesch-Thebesius auch erlebt.

Kein Tanzkurs mit „nichtarischen“ Mädchen

Die Familie wurde immer mehr aus dem Frankfurter Stadtleben herausgedrängt. Zum Beispiel wollte Marlies Tanzstunde machen. Kurz bevor der Kurs losging, rief die Tanzlehrerin an: Eine Mutter habe sich beschwert. Ihr Sohn werde nicht zusammen mit nichtarischen Mädchen Tanzkurs machen. Damit war Marlies raus.

Das Nürnberger Rassegesetz

1935 las sie, damals 15, in der Zeitung, dass die Nationalsozialisten auf ihrem Parteitag in Nürnberg ein neues Rassegesetz erlassen haben. Sie nannten es „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“.

Sie verboten, dass Juden und Nicht-Juden heiraten. Juden durften auch keine sogenannten „Mischlinge“, also Menschen wie Marlies Flesch-Thebesius heiraten. „Was ist dann mit mir?“, fragte sich die Jugendliche. „Wen kann ich einmal heiraten?“ Die Wahrheit war: Menschen wie Marlies sollten aussterben.

„Wen’s treffen soll, den trifft’s“

Das evangelische Krankenhaus, in dem der Vater von Marlies Flesch-Thebesius leitender Chirurg war, entlässt ihn wegen seiner jüdischen Herkunft. In dieser Situation tritt jemand für ihn ein. Martin Schmidt, damals Pfarrer der Dreikönigsgemeinde. Die Dreikönigsgemeinde gehörte zur Bekennenden Kirche – das waren die Evangelischen, die sich gegen den Arierparagraphen in der Kirche gewehrt haben.

Marlies Flesch-Thebesius erzählt in dem Kurzfilm, den Sie nach dem Gottesdienst anschauen können:

 „Pfarrer Schmidt reiste zu dem leitenden Pfarrer dieser evangelischen Vereinigung, um mit ihm über meinen Vater zu sprechen und ihn zu bitten, meinen Vater zu schonen und menschlich zu behandeln. Und er erlitt eine glatte Abfuhr. Der sagte: Da kann ich nichts machen. Was fallen soll, das fällt. Also das war geradezu Zynismus.“[ii]

Der Schwächling am Kreuz

Was fallen soll, das fällt. Wen’s treffen soll, den trifft’s. Das war die Einstellung, die viele damals an den Tag gelegt haben. Pfarrer Martin Schmidt hatte eine andere Geisteshaltung. Er predigte und lebte ein Menschenbild, das den massenmörderischen Maßstäben der Nazis entgegenstand.

Er erinnerte seine Gemeinde daran, was für ein Bild vom Menschen in der Bibel steht und was für ein Mensch der Jude Jesus war.

Christen bekennen sich zu Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Der am Kreuz hängt, der ist Gottes wahrer Mensch. Kein reinrassiger Sieger, kein Held und Herrenmenschen, wie die Nazis ihn haben wollten. Sondern ein Gescheiterter, Leidender. Ein Opfer. Ein Schwächling.

Mitgefühl und Passion

Aber gerade in seiner Schwäche verkörpert Jesus Christus wahre Humanität. Kein achselzuckendes „Wen’s treffen soll, den trifft’s“. Sondern Mitgefühl und die Passion dafür, dass alle Menschen Gottes Ebenbilder sind.

Jesus ist Gottes Sohn, nicht weil er Macht und Gewalt demonstriert. Im Gegenteil. Er legt alle Macht und Gewalt ab, wird ohnmächtig und gewaltlos und bahnt dadurch den Weg zum Leben.

Erniedrigung

Marlies Flesch-Thebesius war damals 1935 Konfirmandin bei Pfarrer Martin Schmidt. Sie mussten viel auswendig lernen. Katechismus, Lieder, Bibelsprüche, Psalmen. Und eben auch den Abschnitt aus dem Philipperbrief, den ich vorhin gelesen habe. Da heißt es: Jesus Christus war zwar „von göttlicher Gestalt“. Aber er „entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an (…) Er erniedrigte sich selbst.“

Was Erniedrigung ist, das erlebt die damalige Konfirmandin Marlies Flesch-Thebesius jeden Tag. Sie weiß, „wie schwer es ist, den Kopf hoch zu tragen, wenn einem dauernd gesagt wird, wie minderwertig man ist“[iii].

Namen statt Nummern

Den Erniedrigten erhöht Gott. Das war für Menschen wie Marlies ein Zuspruch, eine Ermutigung in der Erniedrigung, die ihnen die Nazis zugefügt haben. Die raubten Jüdinnen und Juden alles, zum Schluss auch ihren Namen und machten sie zu Nummern, die sie ihnen im KZ in die Haut eintätowiert haben.

Gott gibt dem Erniedrigten einen Namen, der über alle Namen ist. Das drückt eine Hoffnung aus, die über alle Brutalität der Nazis hinausgeht.

Nicht Hitler hat totale Macht

Im Philipperbrief steht: Im Namen Jesu sollen sich alle Knie beugen. Alle sollen bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist. Das klingt für manche heute nach christlichem Herrschaftsanspruch.

Aber für die Christen damals, die gegen die Nazis waren, war das ein entscheidendes Bekenntnis: Nein, nicht Hitler hat die totale Macht. Noch sonst irgendwer oder irgendwas. Wirkliche Macht hat Gott allein. Und Gott hat Christus, den Erniedrigten, erhöht. Gott hebt die empor, die klein- und niedergemacht werden.

Zwölf Jahre lang Angst

Marlies Flesch-Thebesius hat über die Zeit im Nationalsozialismus gesagt:

 „Wir hatten Angst, deswegen haben wir den Mund gehalten. Ich hatte Angst, bis Hitler tot war. Und wie er tot war, fiel plötzlich etwas von mir ab. Und ich habe gemerkt: Ich habe die ganzen zwölf Jahre Angst gehabt. Und dann plötzlich war’s weg. Weil der Mann weg war und das Regime weg war.“

Nicht schweigen, wenn Juden bedroht werden

Darum ist es so erschreckend, wenn heute in Deutschland wieder Jüdinnen und Juden Angst davor haben müssen, dass andere sie auf offener Straße beschimpfen, ihnen Hass-Mails schicken und Morddrohungen. Oder sie töten wollen wie der Neonazi, der die Synagoge in Halle im vergangenen Oktober attackiert hat. Und darum ist es so wichtig, dass wir nicht schweigen, wenn Jüdinnen und Juden bedroht werden.

Pfarrerin Silke Alves-Christe hätte eigentlich heute die Predigt gehalten hätte, ist aber leider erkrankt. Bei der Mahnwache vor der Frankfurter Synagoge nach der Attacke auf die Synagoge in Halle hat sie ein Schild hochgehalten: „Ich will alles tun, damit Jüdinnen und Juden in Deutschland frei von Angst leben können.“

Es geht beim Glauben nicht nur um Trost

Marlies Flesch-Thebesius hat über den Glaube geschrieben.

„Es geht nicht nur um Trost. Es geht auch um die Gerechtigkeit. Es geht um die Minderheiten, zu Hause und in der Welt. Das ist ein sehr biblisches Thema, aber die meisten Menschen hören nicht gerne davon.“

Und sie fährt fort:

„Wenn die Nachbarin krank ist oder im Sterben liegt, sind sie mitleidig und hilfsbereit. Aber schon der Stadtstreicher, der auf der Parkbank liegt und schnarcht, bringt sie in Wallung. Und wenn wieder einmal ein Unbekannter ‚Ausländer raus‘ auf die Hauswand gesprüht hat, blicken sie sich in stummem Einverständnis an und nicken sich zu.“

Mund aufmachen, wenn Unrecht geschieht

Gegen dieses stumme Einverständnis, gegen das „Hauptsache Schweigen“ hat sich Marlies Flesch-Thebesius gestemmt. Sie hat bis ins hohe Alter davon erzählt, wie es ist, wenn man aufgrund irgendeines Merkmals  - Herkunft, Hautfarbe, Glaube - auf einmal ausgestoßen wird.

Sie hat gehofft, dass Schweigen nicht die Hauptsache bleibt, sondern dass Menschen den Mund aufmachen, wenn Unrecht geschieht.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christus Jesus. (Philipper 4,7) Amen.


[i] Zitiert in: H. Daume, H. Düringer, M. Kingreen, H. Schmidt, „Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus“, S. 30.

[ii] Alle O-Töne aus einem Film-Interview mit Marlies Flesch-Thebesius aus dem Jahr 2012 für die Ev.-Luth. Dreikönigsgemeinde Frankfurt a. M.

[iii] Marlies Flesch-Thebesius, „Hauptsache Schweigen. Ein Leben unterm Hakenkreuz“, S. 159.

 

Diese Seite:Download PDFDrucken

to top