125. Geburtstag Martin Niemöller
Liebe Gemeinde!
Um die spannende Lebensgeschichte Martin Niemöllers zu erzählen, würde eine Predigt nicht reichen. So viele unterschiedliche Themen wären da zu behandeln und zu bedenken. Ich möchte heute - zunächst erzählend - darüber sprechen, was Niemöller mir persönlich bedeutet und möchte im zweiten Teil der Predigt eine mir wichtige Aussage Martin Niemöllers mit einem Bibeltext zusammenbringen. Eine sehr gute, sehr anregende Zusammenfassung seiner wichtigsten Lebensstationen hat Martin Vorländer für die Evangelische Sonntagszeitung geschrieben und ich habe Ihnen seinen Text kopiert, so dass sie ihn am Ausgang mitnehmen und in Ruhe lesen können.
Vielleicht gibt es unter Ihnen einige, die Martin Niemöller, der von 1892 bis 1984 lebte, einmal selbst gehört haben, bei Predigten oder Vorträgen. Ich habe ihn nicht persönlich kennengelernt, aber doch bin ich ihm begegnet, ganz unvermutet, sehr weit weg von hier. Davon möchte ich Ihnen erzählen.
Mitten in meinem Theologiestudium bin ich 1983 für einen Friedensdienst mit Aktion Sühnezeichen nach Israel gegangen und habe in Jerusalem in der Holocaust-Gedenkstätte Yad VaShem gearbeitet. Dort im Archivkeller war ein großes Regal voll mit alten Leitzordnern aus dem KZ Dachau. Zum Teil hatten sie Brandspuren, denn als die amerikanische Armee Dachau befreite, versuchte die SS noch zu verbrennen, was sie nur verbrennen konnte. Aber etwa 100 Leitzordner hatten sie nicht mehr geschafft zu vernichten. Die Amerikaner haben sie mitgenommen in die USA, aber als sie von der Gründung der Gedenkstätte Yad Vashem hörten, schickten sie all diese Ordner dorthin nach Jerusalem. Für Yad Vashem waren diese Dachau-Akten gar nicht so interessant, denn in ihnen ging es weniger um jüdische Opfer. Aber die Archivleiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau interessierte sich für diese Akten; und so war es meine Aufgabe als deutsche Volontärin, diese Ordner durchzusehen, zu katalogisieren und für das Archiv in Dachau alles Wesentliche zu kopieren.
Diese penibel genaue Buchführung der SS war angesichts des Schicksals der Inhaftierten schwer zu ertragen. Mir hat es sehr zu schaffen gemacht, einmal in einen kleinen Ausschnitt all dieser Verbrechen näher einzutauchen und zum Beispiel plötzlich einen von Himmler unterzeichneten Brief in Händen zu halten. Mitten in dieser Beschämung stieß ich eines Tages auf jede Menge Dokumente mit einer ganzen anderen Unterschrift: mit der Unterschrift Martin Niemöllers. Belanglose Dokumente: Seine Frau durfte ihm einmal im Monat wenige Reichsmark schicken, mit denen er sich Tabak kaufen durfte. Der Empfang dieses Geldes und der Kauf wurde jedes Mal exakt quittiert. Über das Unbedeutendste wurde genauestens Buch geführt. Aber für mich als hessen-nassauische Theologiestudentin war das eine sehr wichtige Entdeckung: da mitten in diesen Dokumenten der Schande auf den ersten Kirchenpräsidenten meiner Landeskirche zu stoßen, das hatte für mich eine große Bedeutung. Natürlich war mir sein Name und sein Schicksal in groben Zügen bekannt. Ich hatte zuvor in Hessen auch immer wieder einmal Menschen getroffen, die ihn nach dem Krieg predigen hörten und von ihm beeindruckt waren. Aber nun vertiefte ich mich in seine Lebensgeschichte. In der Bibliothek von Yad Vashem fand ich eine deutsche Biographie Niemöllers, die ich nur so verschlungen habe. Und las dort, wie er in einer persönlichen Begegnung mit Adolf Hitler diesem widersprochen hat und dann von 1937 bis 1945 im KZ Sachsenhausen und im KZ Dachau als Hitlers persönlicher Gefangener inhaftiert war.
In diesem Dienst mit Aktion Sühnezeichen war mir das eine große Hilfe zu wissen, dass es doch auch Christen wie ihn gegeben hat. In meinem Dienst an jüdischen Überleben der Schoah, des Holocaust, war es mir wichtig zu wissen, dass auch Pfarrer, ja, dass auch der erste Kirchenpräsident meiner Landeskirche ein KZ-Überlebender war. Und nach meiner Rückkehr aus Israel und beim Eintritt in den Pfarrdienst der hessen-nassauischen Landeskirche hat es mir geholfen, wie offen er zur Schuld der Kirche gestanden hat, und wie durch das Bekennen der Schuld Vergebung und Neuanfang geschenkt wurde.
Als ich nach meiner Heirat von der hessen-nassauischen in die badische Landeskirche wechseln musste, war es für mich durchaus ein Verlust, nicht mehr zur Landeskirche Niemöllers zu gehören.
Und ich traute meinen Augen nicht, als ich eines Tages im Archiv der Baden-Badener Gemeinde auf Fotos stieß, die Martin Niemöller auf der Kanzel „meiner“ Kirche, der Baden-Badener Stadtkirche zeigten. Martin Niemöller hatte neben Bischof Dibelius und Gustav Heinemann bei der Beerdigung eines französischen Militärpfarrers gepredigt, der sich nach dem Krieg vorbildlich für den Neubeginn der Kirche in Deutschland und für die deutsch-französische Aussöhnung eingesetzt hatte. Niemöller, inzwischen Leiter des kirchlichen Außenamts hatte Marcel Sturm bei der Formulierung des Stuttgarter Schuldbekenntnisses kennengelernt und war ihm unendlich dankbar, dass er schon sehr bald nach dem Krieg Nächstenliebe geübt und Freundschaft angeboten hatte.
Oft musste ich badischen Kollegen erklären, warum wir in Hessen-Nassau keinen Bischof, sondern einen Kirchen-präsidenten haben. Niemöller hatte nach den Erfahrungen mit Reichsbischof Müller in der Hitlerdiktatur den Titel eines Bischofs abgelehnt.
Und in der Tat empfinde ich die hessen-nassauische Kirche als demokratischer und offener und stärker von unten her aufgebaut als die badische Bischofskirche und bin dankbar, dass ich wieder nach Hessen-Nassau zurückkehren konnte.
Als ich an Niemöllers 125. Geburtstag am letzten Samstag einmal wieder seine Biographie zur Hand nahm, stieß ich auf einige Sätze, die ich gern mit Ihnen bedenken möchte und die ich auf dem Blatt abgedruckt habe.
Zuerst finden Sie da einen Stempel mit einer Frage, die Martin Niemöller durch sein ganzes Leben hindurch begleitet hat:
„Was würde Jesus dazu sagen?“
Niemöller erzählte, dass er als junger Pfarrerssohn in Elberfeld seinen Vater einmal begleitete, als dieser einen Krankenbesuch bei einem Weber machte. Neben dem Webstuhl entdeckte der Junge eine Art Bild verglast und gerahmt. Unter dem Glas befand sich ein Stück Stoff, mit daraufgestickten Glasperlen, die einen Satz bildeten, den er mit Mühe entzifferte: „Was würde Jesus dazu sagen?“
Diese Frage, mit der der sterbende Weber in Elberfeld gelebt hatte, behielt Martin Niemöller im Gedächtnis und machte sie zu seiner eigenen Frage in so manchen Entscheidungen, vor denen er stand.
Mir war vor einer Woche eine andere Aussage Martin Niemöllers ins Auge gefallen, die ich unter diesem Stempel abgedruckt habe. In der Leitungsverantwortung für unsere Kirche hatte Niemöller einmal gesagt:
"Wir Kirchenführer stehen täglich in der Gefahr, die Kirche in die Irre zu führen dadurch, dass wir um die Sicherheit der Kirche bemüht sind, und nur die Kirche selber, d.h. die Gemeinde, kann dafür sorgen, dass die Kirchenleitung nicht gottlos wird....!"
Die Schärfe dieser Aussage hat mich überrascht: Ist es nicht gerade Aufgabe der Kirchenleitung, sich um die Sicherheit der Kirche zu bemühen? Haben kirchenleitende Gremien wie Kirchenvorstände, Dekanatssynoden und Landessynode – die Kirchenverwaltung nicht zu vergessen – haben kirchen-leitende Personen wie Pfarrer, Dekane, Pröpste und der Kirchenpräsident nicht gerade diese Aufgabe, sich um die Sicherheit der Kirche zu bemühen: darum, dass sie in der Zukunft bestehen kann, darum, dass die Finanzen stimmen, darum, dass sie in der öffentlichen Meinung gut dasteht?
Aber genau dieses Bemühen nennt Niemöller gottlos. Damit wird die Kirche in die Irre geführt.
Wie kann er so reden, und über ein gutes, jedenfalls gut gemeintes, Bemühen so scharf urteilen?
Für Martin Niemöller ist klar, dass die Sicherheit der Kirche nur durch den Herrn der Kirche, nur durch Gott selbst gewährleistet werden kann. Wer in kirchenleitender Verantwortung steht, ist offenbar sehr gefährdet, dies zu vergessen: gottlos werden heißt dann: von eigener Kraft zu erwarten, was eigentlich Gottes Aufgabe ist.
Einer Kirche, die sich um ihre Sicherheit bemüht, indem sie alles für ihr öffentliches Ansehen tut, die z.B. sogar ihr Engagement für Flüchtlinge benutzt, um gut dazustehen, sollte sich diese Warnung Niemöllers zu Herzen nehmen.
Um nun der Gefahr, die Niemöller sieht, zu entgehen, da kommt die Gemeinde ins Spiel:
Wie kann eine Kirchengemeinde vor Ort dafür sorgen, dass die Kirchenleitung nicht gottlos wird?
Schlicht und einfach, indem sie sich sonntags zum Gottesdienst versammelt, indem sie sich in der Kirche, in Bibelkreisen und Hauskreisen um Gottes Wort versammelt.
Im Gebet, das Sicherheit und Zukunft von Gott erwartet.
In konkreter Nächstenliebe.
Hilfreich ist hier sicher auch das Wort Bonhoeffers:
Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist, also: wenn sie nicht für sich selbst und ihre Sicherheit sorgt, sondern selbstlos für andere da ist.
Ja, selbstlos die Not anderer zu lindern, ist ein besonders guter Weg, nicht gottlos zu werden.
Die Gedanken Martin Niemöllers zu Kirchenleitung und Gemeinde finde ich in einem Bibelabschnitt aus dem 1. Petrus brief, in Kapitel 5 bestätigt, mit dem zentralen Satz: Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.
Bevor wir da von den „Ältesten“ lesen, noch ein kurze Vorbemerkung:
In der badischen Landeskirche z.B. heißt der Kirchenvor-stand nicht Kirchenvorstand, sondern Ältestenkreis, und die Kirchenvorsteher heißen Älteste, auch wenn sie erst 18 oder 20 Jahre alt sind.
Dieser Sprachgebrauch leitet sich u.a. aus dem 1. Petrusbrief her. Wenn da von den Ältesten die Rede ist, sind die Christen gemeint, die die Kirche oder Gemeinde leiten. Hören wir nun zum Schluss die Ermahnung des ersten Petrusbriefs:
Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll:
Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde.
Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit.
Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.
Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. Dem widersteht, fest im Glauben, und wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder und Schwestern in der Welt kommen. Amen.
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