Gottesdienst unter lautem Himmel am Goetheturm
Predigt gehalten am 11.06.2017 am Goetheturm von Pfarrerin Silke Alves-Christe
Liebe Gemeinde!
Meiner heutigen Predigt voranstellen möchte ich einen Brief, den ich vom Ordnungsamt der Stadt Frankfurt erhielt, nachdem wir den heutigen Gottesdienst bei der Stadt angemeldet hatten und dabei angegeben hatten, dass wir zur Begleitung der Kirchenlieder eine Lautsprecheranlage nutzen. Ich habe schon einmal einen ähnlichen Brief vom Ordnungsamt erhalten, als wir im letzten Jahr das Sachsenhäuser Lärmwehrfest bei der Stadt Frankfurt angemeldet haben, aber für unseren heutigen Gottesdienst wurde das Merkblatt des Ordnungsamts offenbar noch einmal intensiv überarbeitet.
Es ist so eindrucksvoll formuliert, dass ich Ihnen den Wortlaut nicht vorenthalten darf.
(Die Gefahr ist groß, dass Sie den Text für eine Satire halten, aber ich habe das Original hier bei mir, so dass Sie sich von dem Wortlaut überzeugen können.)
Da ich mich nicht erinnern kann, liebe Gemeinde, jemals in meinem Leben ein so einfühlsames Merkblatt gelesen zu haben, war es mir ein Bedürfnis, dem Ordnungsamt mit einem ausführlichen Brief dafür zu danken. Meinen Antwort-Brief möchte ich Ihnen nun vorlesen:
Sehr geehrter Herr Döring, sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ordnungsamtes der Stadt Frankfurt am Main!
Sehr herzlich möchte ich mich bei Ihnen bedanken für Ihre Email vom 15. Mai 2017 mit dem beiliegenden Merkblatt, das wir selbstverständlich bei der Begleitung unserer Kirchenlieder im Gottesdienst am Goetheturm beachten.
Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr wir von diesem Merkblatt beeindruckt waren.
Ein solches Mitgefühl mit lärmgequälten Menschen, ein solches Einfühlungsvermögen in die Situation von Lärmopfern hatten wir den Mitarbeitenden der Stadt Frankfurt überhaupt nicht zugetraut. Erst recht nicht solch ausgesucht höfliche und verständnisvolle Formulierungen. Ist doch gerade erst vorgestern eine prominente Mitarbeiterin der Stadt Frankfurt mit der Ehrenbürgerwürde der Stadt ausgezeichnet worden, die nicht nur sehr viel unhöflicher, sondern geradezu demütigend uns lärmbetroffenen Menschen zu verstehen gegeben hatte, „jeder habe doch das demokratische Recht auf Wegzug aus der Region“.
Was für eine völlig überraschende Kehrtwende hat die Stadt Frankfurt vollzogen! Vorgestern noch die Ehrung einer Frau, die Lärmgeplagten den Rat gab, wegzuziehen, und heute lesen wir Ihre ganz erstaunlichen Sätze mit einem außerordentlichen Feingefühl und einer ganz bemerkenswerten Rücksichtnahme für – wie Sie selbst schreiben – „ruhebedürftigere Nachbarn“.
Verstehen wir das recht: die Stadt Frankfurt ist gar nicht mehr der Meinung, dass die Lärmgeplagten am besten wegziehen sollten, sondern das Ordnungsamt wendet sich nun selbst direkt an die Lärmverursacher und erwartet von ihnen Rücksichtnahme und das Einhalten genauer Regeln?
Diese Wendung um 180 Grad ist für uns überaus beeindruckend. Und dazu ein so ausgesucht höflich und einfühlend formuliertes Merkblatt.
Zu gern wüssten wir, wann Sie, verehrte Mitarbeiter des Ordnungsamts, unserem Nachbarn Fraport dieses wichtige Merkblatt zukommen ließen.
Das kann noch nicht allzu lange her sein, denn wir müssen Ihnen ehrlich mitteilen, dass wir noch keinerlei Veränderung spüren, seit Fraport Ihr so überaus hilfreiches Merkblatt erhalten hat. Oder könnte es sein, dass Fraport die wertwollen Hinweise des Ordnungsamts gar nicht bekommen hat? Meinen Sie, es sei vielleicht in der Post steckengeblieben?
Oder wäre es denkbar – was wir nicht annehmen wollen und Ihnen auch nicht unterstellen wollen -, dass das Ordnungsamt dieses Merkblatt noch gar nicht an unseren stetig lärmenden Nachbarn Fraport verschickt hat?
Obwohl wir kaum annehmen, dass einem so aufmerksamen Ordnungsamt ein solches Versäumnis unterlaufen ist, möchten wir hiermit doch die Bitte bekräftigen, dass Sie dieses großartige Merkblatt sicherheitshalber noch einmal losschicken an den Vorstand der Fraport AG.
Weil es für uns lärmgeplagte Bewohner des Frankfurter Südens sehr eilig und dringend ist, dass die Forderungen Ihres Merkblatts auch wirklich eingehalten werden, wollen wir Ihnen das Versenden Ihres Merkblatts an Fraport natürlich so einfach wie möglich machen.
Ihr Merkblatt ist so klar und eindeutig formuliert, dass nur ganz wenige Korrekturen bzw. Konkretisierungen nötig sind, um es an den Nachbarn zu schicken, von dem die ausgiebigste, ausdauerndste, hartnäckigste und quälendste Lärmbelastung für so viele Bürgerinnen und Bürger der Stadt Frankfurt ausgeht.
Hier erhalten Sie das ganz leicht überarbeitete Merkblatt für unseren Nachbarn Fraport:
Wir sind sehr gespannt auf die Reaktion unseres lauten Nachbarn und bitten Sie, liebe Mitarbeiter des Ordnungsamts, uns schnellstmöglich über die Antwort der Fraport zu informieren, die für uns von existentieller Bedeutung ist. Sie haben ja gar keine Vorstellung davon, wie sich unser tägliches Leben verbessern würde, wenn nicht mehr mit zweierlei Maß gemessen würde, also wenn für die Beschallung durch Flugzeuge die gleichen Regeln gelten würden wie Sie sie für unsere Gottesdienstlieder vorschreiben.
Da Sie uns das Merkblatt für einen Gottesdienst zugeschickt haben, damit wir es beim Singen der Kirchenlieder beachten, werden Sie sich nicht wundern, wenn wir nun einen Bibeltext zitieren, der auch für das Adressieren von Merkblättern durchaus interessant sein kann. Dieses Wort aus einer Predigt, die Jesus von Nazareth vor über 2000 Jahren auf einem Berg in der Nähe des Sees Genezareth gehalten hat, also auch unter freiem Himmel, ist für Sie, verehrte Mitarbeiter des Ordnungsamts, natürlich nur für den Fall relevant, dass Sie es tatsächlich bisher versäumt haben sollten, das Merkblatt an die Fraport AG zu schicken.
Was Jesus damals seinen Zuhörern unter freiem, wenn auch nicht unter lautem Himmel gepredigt hat, ist dieser kurze Abschnitt aus dem Lukasevangelium, Kapitel 6, Verse 41 und 42:
Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?
Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.
Zugegeben – in puncto Freundlichkeit und Höflichkeit hätte Jesus sich von Ihrem netten Schreiben, liebes Ordnungsamt, durchaus noch eine Scheibe abschneiden können. Seine Sache war es eher, Tacheles zu reden oder Klartext zu reden. Mit einem sehr drastischen Bild macht er deutlich, worum es ihm geht:
Wegen eines kleinen Splitters, wegen des öffentlichen Singens und Spielens von Kirchenliedern, wird ein Merkblatt mit 6 Punkten versandt, aber wegen eines vielfach so dicken Balkens, wegen einer ständigen, gegen alles Recht verstoßenden quälenden Lärmbelästigung durch die dröhnenden Flugzeuge kommt niemand auf die Idee, den Lärmverursacher auf bestehendes Recht hinzuweisen und ihn um Einhaltung der für das Zusammenleben so wichtigen Regeln zu bitten.
Wie ich schon erwähnte, besonders höflich war Jesus nicht gerade. Denn was ist ein Balken im Auge anderes als ein Brett vor dem Kopf, das einem die freie, klare Sicht nimmt, und das einen das rechte Maß nicht mehr finden lässt?
Das Bild Jesu von dem kleinen Splitter und dem dicken Balken drückt exakt den Hohn aus, den wir empfinden, wenn uns für die Kirchenlieder, die wir im heutigen Gottesdienst singen, genaue Dezibelzahlen vorgeschrieben werden, während die Überflüge, die uns unser Leben so einschneidend verändert haben, sich an keine der so sinnvollen und wichtigen Regeln halten müssen. Ja, da muss schon ein dicker Balken vorliegen, wenn Menschen für diesen Zusammenhang gar kein Empfinden haben. Und uns Betroffenen ist bewusst, dass wir wirklich dicke Bretter bohren müssen, bis ein Bewusstsein für die Problematik des Lärms in unserer Gesellschaft ankommt.
Sie, als Ordnungsamt könnten viel dafür tun, wenn Sie Ihre eigenen Regeln bei allen Lärmverursachern gleichermaßen durchsetzen würden. Darum bedenken Sie das Bildwort, das Jesus von Nazareth in seiner Bergpredigt seinen Zuhörern mitgegeben hat und das über die 2000 Jahre nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat:
Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?
Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.
Amen.
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